Fiktives Schreiben eines Grundschulrektors an die Eltern
„Liebe Eltern,
mit dem neuen Schuljahr tritt eine Änderung in Kraft, auf die Sie sich leider einstellen müssen. Sie hat zu tun mit der Wahrnehmung meiner Gesamtverantwortung als Schulleiter für die Qualität von Unterricht und Erziehung an unserer Schule. In diesem Schuljahr sind zu den bestehenden Herausforderungen leider auch neue dazugekommen. Sie haben sicher auch in der Zeitung gelesen, dass in Grundschulen in fast allen Fächern Lehrkräfte fehlen. Die Suche nach voll ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern ist trotz der Unterstützung durch die Schulbehörde leider sehr zeitaufwändig. Das gilt auch für die Suche nach Vertretungskräften, die in der Regel entweder noch im Studium sind oder es gerade beendet haben. Damit diese für Ihre Kinder gut ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer von ihrem ersten Schultag an richtig gut unterrichten können, begleite ich sie immer wieder gerne im Unterricht, bis sie sicher und schülerorientiert unterrichten können.
Mit dem so wichtigen Startchancenprogramm kommen auf einen Schulleiter weitere Aufgaben zu. Eine besondere Herausforderung stellt die Suche nach Lehrkräften für Deutsch als Zweitsprache dar. Es ist uns ein Herzensanliegen, dass ausländische Kinder ohne Deutschkenntnisse so lange Deutschunterricht erhalten, bis sie zusammen mit allen anderen Kindern einer Klasse an den Unterrichtsstunden aktiv teilnehmen können.
Etwas überrascht waren wir von der Verwaltungsvorschrift, dass beeinträchtigte Kinder nicht mehr mit einer Förderschullehrkraft an ihrer Seite bei ihrer Art des Lernens unterstützt werden. Stattdessen wird nun von allen Fachlehrkräften ohne Studium der Sonderpädagogik eine förderpädagogische Zuwendung in jeder Unterrichtsstunde gefordert. Auch diese Lehrkräfte brauchen Zuspruch und berufliche Förderung ihres Schulleiters ganz zu schweigen von der Durchführung der dritten Phase der Lehrerausbildung, die Lehrkräfte nach der zweiten Staatsprüfung in der Schule absolvieren müssen. Auch diese Ausbildung liegt in der Hand eines Schulleiters.
Ganz neu ist die zukunftsweisende Idee der Einführung eines digitalen Schulmanagements. Damit das gelingt, ist es wichtig, dass Rektorat und Sekretariat viel Zeit für eine gute Zusammenarbeit haben.
Das sind nur die aktuellen, aber sehr zentralen Aufgaben, die meine ganze Kraft und Aufmerksamkeit als Schulleiter zusammen mit dem Kollegium beanspruchen. Ich habe das große Glück, dass ich eine sehr kompetente und umsichtige Sekretärin habe, die mich von Anfang an sehr unterstützt hat. Leider billigte der Schulträger ihr nur eine halbe Stelle zu. Wie Sie sicher nachvollziehen können, sind ihre vielen Überstunden ein klares Zeichen dafür, dass ihre 20 Stunden nicht ausreichen. In ihrer Abwesenheit konnte ich sie deshalb in begrenztem Umfang vertreten, weil ich zur Leitung unserer Schule sogenannte Anrechnungsstunden vom Ministerium zur Verfügung habe, die ich für meine Leitungstätigkeit verwenden soll.
An unserer Schule mit 12 Klassen sind das 24 Stunden pro Woche. Angesichts der vielfältigen und zeitaufwändigen Aufgaben, die ich übernommen habe, kann ich guten Gewissens eine weitere Vertretung unserer Sekretärin durch mich nicht mehr länger verantworten. Ich möchte mich aber gerade wegen der hohen bildungs- und gesellschaftspolitischen Bedeutung des Startchancenprogramms von ganzem Herzen für sein Gelingen einsetzen, die ich in unserer Schule mit 12 Klassen und insgesamt 24 Stunden pro Woche übernommen habe. Darunter fällt auch die Verantwortung für den Unterricht der Schülerinnen und Schüler, also auch für Ihr Kind. Und ich möchte mich auch um die Belange der Lehrkräfte kümmern.
Ich bitte Sie daher von Herzen um Verständnis, dass das Sekretariat ab sofort nur noch an 2 œ Tagen geöffnet sein wird. Unsere Sekretärin wird daher telefonisch nur zeitweise erreichbar sein (montags, mittwochs von 07.30 Uhr bis 14.30 Uhr und freitags von 7.30 Uhr bis 13.30 Uhr). Ich selbst bin in besonders dringenden Fällen unter meiner Mobilnummer erreichbar.
Ich hoffe sehr, dass Sie Verständnis haben, und verbleibe
mit freundlichen Grüßen.“
Warum hat der Schulleiter so entschieden?
Vor ungefähr 20 Jahren haben viele Schulträger in den Bundesländern beschlossen, an Grundschulen mit drei Zügen und ungefähr 12 Klassen nur noch halbe Sekretariatsstellen einzurichten. Das Ziel war, Personalkosten zu sparen. Die jeweilige Kommunalverwaltung als Schulträger hat festgestellt, dass sich Sekretariatsarbeit in der Regel nur auf Schreibarbeiten der Sekretariatskräfte beschränken würde. Dazu zählen Telefondienste, Bewirtung, Ablage, Postbearbeitung und die Ausgabe von Verbandsmaterial für eine medizinische Erstversorgung von Kindern. Kurz gesagt: Eine solche Vorstellung von Sekretariatsarbeit an einer Schule führte zu dem Schluss, dass dreizügige Grundschulen keine Sekretariatsstellen in Vollzeit brauchten. Eine Sekretärin mit halber Stelle könne doch bestimmt auch die anderen Kleinigkeiten erledigen. Und die Schulleiterin oder der Schulleiter könne doch bestimmt auch die andere Hälfte der Sekretariatsstellen sozusagen nebenbei erledigen. Schließlich sind diese Tätigkeiten doch wohl eher administrativer Natur. Schulleiterinnen und Schulleiter haben schließlich vom Land bereits genügend Anrechnungsstunden erhalten, um auch bei anfallenden Arbeiten im Sekretariat die Sekretärin zu vertreten. Die Anrechnungsstunden sind zwar in erster Linie für die Wahrnehmung der Führungs- und Leitungsfunktion gedacht, aber Sekretariatsarbeiten gehören ja wohl dazu so die Meinung vieler Schulträger.
Allerdings gibt es hier einen Denkfehler in der Argumentation: Wenn ein Schulleiter nach fünf Jahren keine Sekretariatsarbeit mehr machen möchte und dies den Eltern mitteilt, mag das zunächst wie eine eigenmächtige Vorgehensweise wirken. Aber dem ist nicht so. Denn der Schulleiter muss den Sekretariatstätigkeiten jedes Jahr neu zustimmen, wenn er Aufgaben übernimmt, für die nicht er, sondern die Sekretariatskräfte fachlich qualifiziert sein müssen. Und auch der zuständige Bezirkspersonalrat muss dem zustimmen. Außerdem ist es wichtig, zu beachten, dass die Übertragung von Tätigkeiten, die für einen Schulleiter nicht amtsangemessen sind, zu befristen ist. Sie endet üblicherweise nach fünf Jahren. Da es sich um zwei unterschiedliche Aufgabenbereiche mit unterschiedlichen Qualifikationsanforderungen, Vergütungen und Arbeitgebern handelt, gibt es faktisch eine Analogie zu einer Teilabordnung zum Schulträger zur Erledigung von Sekretariatsarbeit nahe. Wenn wir uns nun die Bestimmungen über Abordnungen anschauen, dann sehen wir, dass vor allem die Zustimmung des Betroffenen notwendig ist. Zudem sollte die Teilabordnung enden, wenn sie nicht mehr fortgesetzt werden soll. Im vorliegenden Fall wäre das nach fünf Jahren der Fall.
Wenn wir bei dem Modell einer Teilabordnung bleiben, dann wäre es eine Abordnung zur (befristeten) Erledigung von Aufgaben, die für Lehr- und Leitungskräfte nicht als amtsangemessen bezeichnet werden können. Die Schulbehörde könnte sie aus fürsorgerechtlichen Gründen untersagen. Vielleicht haben manche schon einmal die Befürchtung gehabt, dass das Ansehen des Rektorenamts in der Öffentlichkeit leidet, wenn sie oder eher zeitweise bei Sekretariatsarbeiten gesehen wird. Und wir wollen hier gar nicht erst von den gesundheitlichen Folgen anfangen, die sich aus der Verpflichtung zur gewissenhaften Erfüllung dieses zunehmend umfangreichen Aufgabenblocks von Führung, Leitung und ihrem administrativen Vollzug ergeben können.
Das Abordnungsmodell ist am ehesten dazu geeignet, das Tätigkeitsfeld zu beschreiben, das die Schulleiterin oder der Schulleiter im Umfang ihrer halben Stelle wahrnimmt. Es ist wichtig zu beachten, dass das Land dank der Sekretariatsarbeiten von beamteten Rektorinnen und Rektoren Sekretariatstätigkeiten von Schulleiterinnen und Schulleitern bezahlt, die eigentlich dafür überbezahlt und für die Sekretariatstätigkeit nicht ausreichend qualifiziert sind. Das ist eine interessante Situation, denn eigentlich hat das Land die Verantwortung dafür, dass eine Schulleiterin oder ein Schulleiter auch ihre oder seine Schule leitet. Aktuell erfährt lediglich der Haushalt des Schulträgers eine Entlastung.
Gleichzeitig führt diese Situation zu einer erheblichen beruflichen Belastung der Rektorinnen und Rektoren, die ja vom Land dazu bestellt wurden, als Beamte mit ganzer Hingabe eine Grundschule zu leiten. Gleichzeitig erwartet der Schulträger von ihnen, dass auch alle Aufgaben, für die üblicherweise eine Sekretärin zuständig ist, mindestens ebenso sorgfältig und gewissenhaft erledigt werden. Das führt zu einer großen Arbeitsbelastung, die für die meisten von ihnen auf Dauer nicht länger zumutbar ist. Und das, obwohl der Gesetzgeber in § 4 Abs. 1 des Arbeitsschutzgesetzes den Arbeitgeber auffordert, „…die Arbeit … so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird“.
Die Kommunalverwaltung sagt, dass eine Grundschule keine Vollzeit-Sekretärin braucht. Sie sagt, dass sich die Sekretariatstätigkeit in den letzten 20 Jahren nicht wesentlich verändert hat. Deshalb lehnt sie eine Aufstockung der Sekretariatsstellen ab. Außerdem könne man doch wohl dem Schulleiter in minimalem Umfang diese Tätigkeiten durchaus zumuten.
Doch ist dieses Status-quo-Denken nicht stichhaltig, da u.a. mit dem Startchancenprogramm die Anforderungen an die Stelle einer Schulleiterin oder eines Schulleiters erheblich gestiegen sind. Damit das Startchancenprogramm eine Chance für einen guten Start und erfolgreiches Gelingen hat. ist ein aktives Führungs- und Leitungshandeln der Schulleiterin bzw. des Schulleiters notwendig. Und das kostet Zeit und noch einmal Zeit.
Wenn Schulleiterinnen und Schulleiter ihre Dienstpflichten ernst nehmen, haben sie leider keine Zeit für Sekretariatstätigkeiten. Denn diese würden im Übrigen den Verpflichtungen zuwiderlaufen, die sich aus dem Hauptamt ergeben. Und auch die Anforderungen an Sekretärinnen haben sich im Laufe der Zeit gewandelt. Sekretärinnen sind sozusagen die „Türöffner“ an einer Schule und die „Kümmerer“. Je mehr Probleme Kinder haben, desto mehr haben auch Sekretärinnen damit zu tun. Hinzu kommen die neuen Schulstrukturen, die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen sowie zahlreiche weitere Aufgaben wie z. B. die Abwicklung des Mittagessens oder die Schulbuchausleihe.
Darf der Schulleiter den Eltern also einen Brief schreiben? Die Antwort ist ein klares Ja!
Wenn der Schulleiter einer Grundschule einen solchen Brief an die Eltern schreibt, dann kann das vielleicht für manche ein Schock sein. Sie könnten denken, dass doch alles bisher so gut geklappt hat. Doch wenn wir das tun, übersehen wir manchmal den Preis, den er für seine gute Tat zahlt. Wenn ein Schulträger sich auf ein solches Unterstützungsmodell einlässt, sollte er sich darüber im Klaren sein, dass er mit seiner Vorgehensweise sowohl das berufliche Ansehen einer Grundschulleiterin oder eines Grundschulleiters als auch das seiner Sekretärin („Das kann doch jeder!“) beschädigt. Und noch etwas: Als Schulträger muss man sich auch fragen lassen, ob man einem Schulleiter über fünf Jahre hinweg die Erfüllung seiner Dienstpflichten nicht eher erschwert hat. Es ist bedauerlich, dass der Schulträger es in Kauf nimmt, dass der Schulleiter als Beamter seine Aufgaben nicht mit voller Hingabe wahrnehmen kann. Und der Schulträger sollte auch wissen, dass bei Beibehaltung seines Konzepts der Teilzeitbeschäftigung von Sekretariatskräften immer weniger Lehrerinnen und Lehrer dazu bereit sind, ein Leitungsamt in einer Grundschule anzustreben.
Das gilt besonders für ihre Verantwortung für die Unterrichts- und Erziehungsarbeit. Es fehlt ihnen dann die Zeit, um die Lehrkräfte zu unterstützen und zu fördern, was sich beispielsweise auf das Abschneiden bei den nächsten Schulleistungsstudien (z. B. IGLU oder VERA 3) auswirken kann. Solange dieser unhaltbare Zustand anhält, sollten wir unseren engagierten Schulleiterinnen und Schulleitern mit Wohlwollen begegnen, wenn sie sich mit Herzblut dafür einsetzen, dass die Schulsekretärinnen wieder die volle Unterstützung bei ihrer verantwortungsvollen Arbeit erhalten, insbesondere im zukunftsweisenden digitalen Schulmanagement und sie selbst mit ruhiger Hand ihre Schulen leiten können.
((Zum Autor: *1948 in Groß-Gerau, Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Geographie für das Lehramt an Gymnasien an der Joh. Gutenberg-Universität Mainz, Gymnasiallehrer, Fachleiter für Sozialkunde, stellvertretender Schulleiter. 1979 – 1981 pers. Referent von Sts. Dr. Stollenwerk im Kultusministerium in Mainz; 1990 – 2013 Ltd. Regierungsschuldirektor für Gymnasien, Gesamtschulen, Waldorfschulen bei der Bezirksregierung/ Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion in Koblenz, Landeskoordinator für die interregionale Zusammenarbeit im Bildungsbereich mit den MOE-Staaten (Leiter zahlreicher interregionaler Seminare für Lehrer, Schulleiter und Schulaufsichtsbeamte); seit 2013 freiberuflicher Schulberater; seit 1991 Autor zahlreicher Bücher und Fachaufsätze zum Thema „Schulmanagement“.)