in: Medien, Kreativität. Interdisziplinarität. Massenmedien und Kommunikation ( MuK), Bd. 176/177, Univ. Siegen, Siegen 2009, S. 13-26. Von Ralf Lankau (2009)
Kreativität ist einer dieser viel und gern benutzten, positiv besetzten Begriffe. Kreativ sind (wahlweise) Ideen oder Personen, Lösungen, Anwendungen oder Verhaltensweisen. Man kann (umgangsprachlich) fast alle Tätigkeiten mit dem Begriff des „kreativen Tuns“ adeln. Ursprünglich den Künsten und der Wissenschaft zugeordnet, wird der Begriff mittlerweile für jede Form von Tätigkeit und Aufgabenstellung beansprucht. „Kreativität“ ist quasi ein Selbstwert wie Innovation, Nachhaltigkeit oder Effizienz. Gemeinsam ist diesen Begriffen sowohl die positive Besetzung wie die Inhaltsleere. Die eigentliche Tätigkeit, der Prozess und das Ziel sind nachgeordnet, weil austauschbar.
Machen Sie die Probe aufs Exempel, bevor Sie weiterlesen: Was fällt Ihnen zu den Begriffen „kreativ“ und „Kreativität ein? Legen Sie diesen Text für eine viertel, halbe Stunde beiseite und machen Sie ein sogenanntes „brain storming“ (Gehirnsturm oder Gedankengewitter; auf deutsch: eine Ideensammlung). Schreiben Sie Ihre Gedanken, Stichworte und Assoziationen auf, als Stichwortliste oder „mind map“ (Geistkarte, auf deutsch: Skizze), auf der Sie Ihre Gedanken „clustern“ (auf deutsch: ordnen, gliedern, strukturieren). Sollte Ihnen nichts einfallen vor dem weißen Blatt, brauchen Sie wahrscheinlich ein Kreativitätstraining und sollten unbedingt Kreativitätstechniken lernen. Kreativitätstechniken werden in Workshops vermittelt und in Ratgebern publiziert. Methoden und Techniken kann man schließlich lehren und lernen. Kreativität auch?
Mit der Ausweitung des Kreativitätsbegriffs in den 60ern – an die Stelle des schöpferischen Potenzials des Menschen traten Problemlösungsstrategien – etablierte sich ein Dienstleistungsmarkt für Berater(innen) und Kreativitätstrainer(innen). Das etwas seltsame „wording“ dieser englischen Begriffe und deren Endung auf „-ing“ ist zum einen der englischen Sprache geschuldet, zum anderen dem Marketing – und der gewünschten Expansion des Marktes. Neben dem „brain storming“ gibt es heuer das „brain writing“, neuerdings das „brain walking“. Es spricht aber nichts dagegen, daraus auch ein „brain swimming“ oder ein „brain food cuttíng“ oder „brain flower watering“ zu machen.
Das Prinzip einer Methode sind Beschreibbarkeit und Reproduzierbarkeit, nicht ein validiertes Ergebnis. Die Kosten für diese Kurse wiederum hängen von den Adressaten ab: Wer Führungskräfte „coacht“, kann ein paar Tausend Euro ansetzen, wer das Gleiche an der Volkshochschule unterrichtet, muss sich finanziell bescheiden. Aber das sind die Spielregeln des Marktes: Nicht das Produkt oder die Dienstleistung bestimmen den Preis, sondern der Personenkreis, dem man es zu einen bestimmten Preis offeriert. Was wir aus der Konsumgüter- und Lebensmittelindustrie kennen – der Verkaufspreis eines Produktes bemisst sich nicht am Produkt selbst, sondern an der Zielgruppe, der Verpackung und dem Verkaufsort – gilt gleichermaßen für Dienstleistungen.
Ineffizienz als Methode: Brain Storming
Dabei gibt es ein paar kleinere Probleme. Die so genannten Kreativitätstechniken wie exemplarisch das „brain storming in Gruppen sind nicht sonderlich effektiv. Diese vom Werbefachmann Alex Osborn 1953 entwickelte Methode ist zwar durchaus populär und wird immer noch viel benutzt. Doch schon 1958 wurden die Wirksamkeit dieser Methode widerlegt (Stroebe; Nihstad, 2004). In immer neuen (psychologischen) Testreihen und Untersuchungen wurde und wird das Für und Wider untersucht. Letztendlich gelten die Wartezeiten (andere Teilnehmer reden, man muss zuhören, verkrampft mental, um die eigenen Ideen zu behalten) als Hemmnis. Sinnvoller ist es, nach derzeitigem Kenntnisstand, alleine oder maximal zu zweit, die gestellte Aufgabe zu bearbeiten und mit diesen schriftlich fixierten Ideen ins Meeting zu gehen. Aber auch dabei führen die gruppendynamischen Prozesse, die latenten Hierarchien und nicht zuletzt das Konkurrenzdenken nicht unbedingt zu qualitativ hochwertigen Ergebnissen. Zudem lässt sich Kreativität nicht erzwingen.
Während man versucht, möglichst originelle Ideen zu formulieren, blockiert das Gehirn. Gute Ideen kommen, zeitversetzt, bei eher profanen und monotonen Tätigkeiten, während man mit Anderem beschäftigt ist: Sport treibt, Fenster oder Gemüse putzt („brain vegetable preparing“)oder sich mental anderen Aufgaben zuwendet. Mitunter findet man Statistiken, bei denen die Kreativitätstechniken eher kontraproduktiv scheinen. Nur 1% der Ideen seien mit derlei Techniken entwickelt, fast alle anderen Tätigkeiten (Essen 4%, Sport 5%, langweilige Sitzungen 10%) seien effektiver (ManagerMagazin 4/1993). Es mag aktuellere Untersuchungen geben (und selbstredend Studien, die das Gegenteil „beweisen“). Bei kritischer Durchsicht dürfte sich aber bewahrheiten, dass der Versuch, kreative Ideen auf Anforderung zu produzieren, oftmals fehlschlägt. In Entspannungs- und Ablenkungsphasen hingegen können die Gedanken schweifen und nicht selten kommt dann der „Gedankenblitz“ oder die Eingebung, die man bei konzentrierter Suche nach einem Lösungsweg nicht findet.
Exemplarisch mag die Geschichte des Physikers Freeman Dyson gelten, der sich wochenlang mit einem mathematischen Problem beschäftigte, an dessen Lösung scheiterte und schließlich aufgab. Mit anderem beschäftigt fiel ihm die Lösung ein, nachts im Bus. Es ist das übliche Phänomen: Etwas (mental) erzwingen wollen heißt verkrampfen. Allerdings gilt der Umkehrschluss leider nicht: Wer loslässt kommt nicht automatisch zu Lösungen. Nur findet dieses dauerhafte (neudeutsch: nachhaltige) Scheitern keinen Niederschlag in den Untersuchungen zu Kreativität …
Trainieren, was nicht zu trainieren ist
An einem weiteren Dilemma kommt keine Methode vorbei: Kreativität ist nicht trainierbar. Man kann zwar Rahmenbedingungen formulieren (offene, freundliche Atmosphäre, Kritikverbot) und Methoden ausprobieren, bei denen neue Denkstrategien und Denk-Spiele angeboten werden (Morphologischer Kasten, 6-3-5-Methode, Disney-Methode, Negation der Aufgabe u.a.) und so die üblichen Denkkonventionen durchbrechen. Aber es bleiben Methoden, um die gewohnten Denkstrukturen zu überlisten. Es führt, außer den sozialen und kommunikativen Aspekten, nicht zwangsläufig zu sinnvollen Ergebnissen. Keine der Methoden habe einen durchschlagenden Erfolg gebracht, das Gelernte lasse sich nur schwer auf andere Situationen übertragen und es gebe keine Methode, um aus einem Langeweiler ein kreatives Genie zu machen, so zumindest der Persönlichkeitspsychologe Ernst Hany (Univ. Erfurt), ein Kritiker des Methodenglaubens.
Ein damit zusammenhängendes Problem ist die Frage der Messbarkeit: Was ist kreativ, welche Idee, welche Lösung wird als kreativ eingestuft? Denn hier sind Werturteile gefragt, die sich eben nicht an der Originalität orientieren (können). Um Neuartiges als relevant zu bewerten, fehlen die Bewertungskriterien. Thomas S. Kuhn hat für die (wenigen) Revolutionen in der Wissenschaft nachgewiesen, dass diese Ideen von Einzelnen entwickelt und sich erst nach und nach gegen den Widerstand der etablierten Denkmodelle durchsetzen konnten. Gleiches spiegelt sich im Domänen-Feld-Individuum-Modell von Csikszentmihalyi. Gute Ideen werden nicht als solche erkannt, wenn das Feld der Experten diese Innovationen nicht (an-)erkennen und bestätigen. Dazu kommt, dass nicht alle Menschen „kreativ“ sind (oder es durch Lebenslauf und -erfahrung, Ausbildung etc.) zumindest nicht mehr sind.
Denn kreative Menschen verbinden Denk- und Handlungsweisen, die bei den meisten Menschen nicht zusammenkommen: divergierendes und konvergierendes Denken, einen ausgeprägten Hang zum Spielerischen, aber auch Leidenschaft, intrinsische Motivation und eine ausgeprägte Konzentration, Fleiß und Gerichtetheit auf die selbst gestellten Ziele. Denn das, was man mit „Genie“ (ingenium) beschreibt, besteht zu 99% aus Handwerk, Wissen und Fleiß und einem Quentchen – Mut vielleicht, etwas konsequent zu Ende zu denken? (Theodor Fontane: Genie ist 99% Fleiß und 1% Inspiration; Thomas Editoson: Genium is 99% perspiration and one percent inspiration.) Dabei wird man heute nicht einmal mehr mit dem Scheiterhaufen bedroht wie Galileo. Die Ängste sind wohl andere.
Selbststilisierung
Denn ob Wissenschaftler oder Künstler, Handwerker oder Ingenieur: Die überwiegende Zahl der „Kreativen“ (im Sinne der Neuerer) sind fleißig und arbeiten zielgerichtet. Sie sind weder besonders neurotisch oder unglücklich, sondern zielstrebig. „Das Bild vom weltabgewandten Eigenbrötler, der seine Umwelt tyrannisieren muss, um erfolgreich zu sein, trifft nur ganz selten zu“, formuliert Hany (zit. n. Westerhoff, 2009). Es sind zudem eher gutgelaunte, fröhliche Menschen, die in ihrem Tun Erfüllung finden. Die üblichen Klischees der „Kreativen“: selbstbezogen, launisch, egozentrisch, chronisch unzuverlässig, unpünktlich, unglücklich und aus Leidensdruck „kreativ“, spiegelt zwar den Geniegedanken des 19. Jh., darf aber getrost als Selbstinszenierung betrachtet werden.
Dem Leiden van Gogh lassen sich hunderte lebens- und lustbetonte Künstler gegenüberstellen, den wenigen Exzentrikern eine Überzahl an in Lebensstil und Auftreten völlig „normale“, vielfach bürgerliche Existenzen, die ihre Kreativität in Werken, nicht im Auftreten ausgelebt haben. Klischees sind aber brauchbar, um für sich besondere Rechte in Anspruch zu nehmen. Gekoppelt mit dem für „Kreative“ heute üblichen Dresscode (schwarz), einem eher enervierenden Gebaren und speziellen Accessoires, darf man sich zumindest wundern. Denn eines sind schöpferische Menschen sicher nicht: Konformisten, die ihr Selbstverständnis aus Uniformierung und äußeren Attributen ableiten.
Kreativ ist positiv?
Aber fragen wir grundsätzlich: Ist Kreativität überhaupt generell wünschenswert? Üblicherweise wird als „kreativ“ bezeichnet, was neu und nützlich sei (exemplarisch Förster; Denzler, 2006, S. 447). Neu und nützlich (?) sind z.B. die neuen Kommunikationstechniken, etwa das Apple iPhone. Neu und nützlich (?) sind die derzeit 35.000 Apps (kleine Applikationen, Anwendungen), die man teils kostenlos, teils kostenpflichtig aus dem Netz laden kann (Stand April 2009; bis zum Erscheinen des Artikels dürften es ein paar tausend mehr sein). Andernfalls würden sie weder programmiert noch genutzt/gekauft. Oder? Neu, vielleicht nicht ganz so nützlich, ist das Spiel „Baby Shaker“, bei dem ein (virtuelles) Baby schreit und der Nutzer das Handy so lange und heftig schütteln muss, bis das Baby …, tja, ist ja nur ein Spiel, die Augen werden bei erfolgreicher Tätigkeit mit roten Kreuzen durchge-ixt. Kreativ immerhin war Spielidee und Realisation?
Wer Attribute wie „neu und nützlich“ zur Definition des „Kreativen“ heranzieht, muss fragen: Neu für wen? Nützlich für wen? Neu sind immer leistungsstärkere Computerspiele, mit denen Milliardenumsätze generiert werden. Neu sind die eingesetzten Techniken, kreativ die Spielideen und deren Realisierung. Während hierzulande Psychologen und Erziehungswissenschaftler darüber streiten, welche Auswirkungen insbesondere Gewaltspiele (Ego-Shooter) haben und es zahlreiche Studien gibt, die die Unbedenklichkeit dieser Spiele behaupten, nutzt das amerikanische Militär solche Spiele aufgrund der Affinität junger Männer zu Video- und Schießspielen nicht nur zur Rekrutierung, sondern auch zur Ausbildung. Mittels Software kann man das Einschleifen der Abläufe, die Freund-Feinderkennung und die gewünschten Reiz-Reaktions-Schemata (kontrolliert und gezielt schießen) trainieren. Natürlich nur aus Kostengründe– und ohne Auswirkung auf das Verhalten in realen Situationen. Kreativ ist zumindest die Argumentation.
Während jede Simulation ein bestimmtes Verhalten trainiert, das in entsprechenden Gefahrensituationen abrufbar sein soll (drill and practice, etwa bei Flugsimulatoren ), soll das ausgerechnet nicht für Computerspiele gelten? „Das Gehirn wird so, wie man es benutzt. Vor allem, wenn man mit großer Begeisterung dabei ist. Dann werden die emotionalen Zentren aktiviert und neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet, die alle Nervenzellenverbindungen stärken, die man für die neuen Medien braucht“ beschreibt der Hirnforscher Gerald Hüther in einem Interview zu Internet und Short Messages (Hegner, Fernsehen, 2009, S. 15)
Dabei benötigt man nicht einmal ein tatsächliches Problem, um „kreativ“ zu sein. Kreative Buchführung etwa oder kreative Steuervermeidungsstrategien mögen fiskalisch fragwürdig und juristisch grenzwertig (oder kriminell) sein, füllen aber (zumindest kurzfristig) die eigene Kasse (nützlich). Kreative Finanzprodukte führten im September 2008 zwar zum Börsencrash, immerhin „neu“ waren diese Finanzprodukte, nützlich zumindest für die Bezieher der Renditen und Boni. Diese Beispiele ließen sich beliebig ergänzen, aber es mag genügen, die Attribute „neu und nützlich“ ebenso in Frage zu stellen wie die generell positive Besetzung des Begriffs. Wie alle Fähig- und Fertigkeiten, die dem Menschen zur Verfügung stehen, kann er sie in jede nur denkbare Richtung entwickeln. Denn mit den gleichen Techniken und Methoden – kreativen Ingenieursleistungen etwa – kann man Autos entwickeln, die mit drei, zwei oder nur einem Liter Sprit auskommen, ihre Energie aus Solarzellen beziehen oder Luxuskarossen entwickeln, die über mehr als 1000 PS verfügen (1001, um genau zu sein), um mit maximal möglichen 406 km/h im Stau zu stehen (Bugatti EB 16.4 Veyron, 2005).
Die Grundvoraussetzung für „kreative Lösungen“ ist die Bereitschaft, die gewohnten, tradierten und normierten, die gelernten, gegebenenfalls auch gesetzlich vorgegebenen Wege zu verlassen. Denn auch andere (wertende) Begriffe zur Beschreibung von Kreativität wie z.B. Neuartigkeit, Sinnhaftigkeit oder Akzeptanz (Preiser, Kreativität) sind an (Wert-)Urteile und Bezugsysteme gebunden. Neu nur für mich oder neu auch für andere, am Ende gar alle (Mitglieder der scientific community, Wertegemeinschaft o.ä.). Ob etwas für mich neu ist, entscheidet sich anhand meiner Erfahrungen, (Vor-)Kenntnisse und meines Wissens. Je intensiver ich mich mit etwas beschäftige, desto sicherer wird die Erkenntnis, kaum etwas Neues mehr zu einem Thema beitragen zu können. Vielleicht sind Detailfragen offen, die man ergänzen kann, vielleicht kann man neue Querverbindungen schaffen.
Letztlich sind es aber Variationen von bereits Vorhandenem. Gleiches gilt für den Begriff der Sinnhaftigkeit: Sinn ist ein zunächst inhaltsleerer Begriff. Ob etwas sinnvoll ist, ergibt sich immer aus dem Wechselspiel vom jeweiligen soziokulturellen Kontext, der jeweiligen Zeit und dem Individuum, aus gegenwärtigen Einstellungen und Einschätzungen. Kein Werturteil ist ohne Kontext denkbar. Jede Kann-Option (z.B. eine Handlung als sinnvoll zu vertreten) impliziert ein immanent flexibles Wertesystem. Kann es sinnvoll sein, Menschen zu foltern, wie es in der Aufarbeitung der Präsidentschaft von George W. Bush derzeit diskutiert wird? Kann es. Man möge doch nicht nur über die Folter berichten, sondern auch über die Erfolge, wie der ehemalige US-Vizepräsident Cheney im April 2009 verkündete.
Den Begriff der Akzeptanz (hier des zielgerichteten als berechtigten Handelns) als relativ und willkürlich muss ich jetzt nicht weiter thematisieren … Im Kern heißt das: Bei Bedarf kann alles als nützlich oder sinnvoll bezeichnet werden und man kann es (muss es aber nicht) akzeptieren. Was das mit Kreativität zu tun hat? Auf solche Ideen muss man erst mal kommen: Folter als nützlich, weil erfolgreich zu präsentieren. Was Cheney hier exemplarisch zeigt, ist die Aufgabe jeglicher Normen, Konventionen und rechtlicher Grundlagen, um zu einem, wie er meint, sinnvollen Resultat zu gelangen. Und ist nicht eines der Kennzeichen „kreativer“ Menschen, dass sie gegen bestehende Konventionen und Normen verstoßen, wenn es ihnen zum Erreichen ihrer Ziele als notwendig erscheint?
Fazit: Gegen den Strich gebürstet
Kreativitätstechniken, insbesondere in Gruppen, sind nicht sonderlich effektiv. Sinnvoller ist es, den Teilnehmern nach einer entsprechenden Beschreibung der Aufgabenstellung Zeit zu lassen, um Ideen zu entwickeln. Die beim Kreativitätstraining übliche Trennung zwischen Aufgabe (Lösungsweg bekannt) und Problem (Lösungsweg nicht bekannt) ist zudem fragwürdig. „Probleme“ sind, nüchtern betrachtet, Aufgaben und es wird bei Lösungswegen nur äußerst selten tatsächlich Neues entwickelt. Ein qualifiziertes Team, ein funktionierendes Projektmanagement, eine exakte Aufgabenbeschreibung, eine durchdachte Arbeitsplanung und funktionierende interne Kommunikation ließe viele „Kreativsitzungen“ obsolet werden. Da Ideen ohnehin nicht während der Sitzungen einfallen, sondern – nach der sogenannten Inkubationszeit – in fast jeder Situation und bei fast jeder Tätigkeit außer der „Ideenproduktion, sollte man die Rituale dieser Sitzungen als solche begreifen: Rituale der Initiierung für den Projektstart. Nicht alle Beteiligten sind (oder werden) kreativ, aber Sitzungen haben kommunikative und soziale Funktionen für ein Team. Wichtig hingegen scheint, den Einzelnen zu sensibilisieren. Damit er oder sie überraschend (und flüchtig) auftauchende Ideen wahr- und ernst nimmt und (schriftlich) fixiert, um sie für die weitere Diskussion präsent zu haben.
Kreativität lässt sich nicht trainieren: Es ist eine Frage der Persönlichkeit, ob komplexes, divergentes Denken möglich ist oder nicht. Kreativität ist eine Eigenschaft der Persönlichkeit, deren Grundlagen z.T. Veranlagung sein mögen, sich primär aber der individuellen Biographie, Veranlagung und Förderung verdankt. Neugier, Offenheit und z.B. Konfliktbereitschaft lassen sich, zumal bei Erwachsenen, zwar als förderlich für die Ideenentwicklung konstatieren, aber nicht (mehr) als Persönlichkeitsmerkmal formen. Aber auch bei Kindern kann man zwar im Sinne der Reformpädagogik „fordern und fördern“, aber nicht bestimmen, welche Eigenschaften und Fähigkeiten diese Individuen entwickeln. Man kann ihnen z.B. die Musik nahe bringen, das Lesen der Noten und, mit etwas Geschick, auch die Freude am Musizieren. Ob jemand aber nur ein guter Instrumentalist wird oder ein Komponist und ob jemand dabei zu eigenständigen Ergebnissen kommt, entzieht sich der Vermittelbarkeit. Trainierbar sind technische Perfektion und das Beherrschen der Regeln, nicht zwangsläufig ein Hörerlebnis.
Kreativität lässt sich nicht messen. Denn als Maßstab dienen Gewohnheit und Norm. Ob eine Idee wirklich originell ist und sich durchsetzen kann, bestimmt das soziale und historische Umfeld. Alleine die sehr unterschiedliche Wert- oder Geringschätzung der Musik eines Johann Sebastian Bach verdeutlicht, dass es nicht die Musik (alleine) sein kann, die beurteilt und bewertet wird, sondern das jede Wertschätzung im Kontext der Zeit zu betrachten ist.
Aber auch der „Flow“, den Csikszentmihalyi als Kriterium für die kreative Arbeit heranzieht, ist nicht auf kreative Arbeit beschränkt. Sportler kennen dieses Gefühl bei Ausdauersportarten (bei entsprechender Dauer), Musiker beim Musizieren, selbst wenn sie „nur Noten“ spielen. Sogar Gärtner, Köche, Handwerker kennen diesen Zustand der Selbstvergessenheit, Ruhe und Zufriedenheit des Tunst. Der sogenannte „Flog“ beschreibt nichts anderes als den Zustand, während einer Tätigkeit ganz bei sich und mit sich im Reinen zu sein: Handeln und Bewusstsein bilden eine Einheit, die Aktivität wird autotelisch (hat das Ziel in sich selbst) (Csikszentmihalyi, S 163, 166). Zu unserem Glück beschränkt sich dieses Gefühl nicht nur auf kreatives Arbeiten. Allzu freudlos wäre sonst die meiste Tätigkeiten.
Csikszentmihalyi unterscheidet weiter zwischen der „kleinen und der großen“ Kreativität. Die kleine Kreativität ist das, was jedem Menschen zur Verfügung steht. Damit kann man Blumengestecke arrangieren oder Tische besonders schön decken, Plakate und Kampagnen gestalten oder Autos (Brücken, Flugzeuge) konstruieren. Es bleibt alles innerhalb eines Reglements (handwerkliches Können, Wissen, Regeln). Die „große“ Kreativität hingegen, die zu außergewöhnlichen Ideen, Entwicklungen oder Werken führt, muss diese Regeln und Konventionen überwinden und lässt sich als Prozess und Eigenschaft nicht beschreiben, nicht lernen, nicht vermitteln. Es gibt keine überindividuellen Eigenschaften für Kreativität. Sie ist an das Individuum gebunden, entsprechend individuell ausgeprägt und immer nur zeitlich nachgeordnet festzustellen.
Wir wissen nicht und können nicht wissen, ob es nicht vielleicht bessere Bücher, Kompositionen, Konstruktionen oder wissenschaftliche Modelle gegeben hat als die uns bekannten. Wir kennen nur das Überlieferte, also die Selektion der Altvorderen nach uns nicht bekannten Kriterien. Das Vertrauen in die Urteilskraft der Vorgänger ist unvermeidbar, legitimiert sich aber nur durch das Fehlen jeglicher Alternative. Nicht für wert Befundenes ist verloren, es sei denn, es wird überliefert. Gustav Mahler war zu seiner Zeit als Dirigent hoch gelobt, als Komponist hingegen fiel er glatt durch. Heute gehört er zum Kanon der Modernen Komponisten.
Die Kompositionen Vivaldis, heute fester Bestandteil des musikalischen Kanons, sind schon zu Vivaldis Lebzeiten „aus der Mode“ gekommen und er starb 1741 arm und vereinsamt in Wien. Viele seiner Kompositionen wurden erst in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts wiederentdeckt, gedruckt und verbreitet. Seither spielt man seine Werke. (Es wäre eine eigene Kunst- und Kulturgeschichte zu schreiben über den Wandel der Geschmacks- und Werturteile und die unterschiedliche Rezeption von Werken. Wertschätzungen sind, schon sprachlich, Schätzungen und zeitgebunden. Nur Weniges hat Bestand. Die Wahl ist oft zufällig, oft willkürlich. )
Da man die „große Kreativität“ nicht zu fassen bekommt, befassen sich alle Kreativitätstechniken und -methoden, alle Untersuchungen und Versuchsaufbauten der Kreativitätsforschung mit der „kleinen“ Kreativität. Dafür kann man Methoden und Bewertungskriterien entwickeln, Seminare anbieten und Ratgeber schreiben. Ob aber ein Mensch das Potential, das möglicherweise in ihm steckt, tatsächlich auslebt, bleibt jedem wissenschaftlichen Zugriff verborgen. Die Bildende Kunst vollzieht diese notwendige Trennung von Hervorbringung (das Schaffen) und dem Urteil (durch den Betrachter). Die Bewertung eines Werkes als Werk ist keine Eigenschaft des Werkes selbst, sondern der/des Urteilenden. Als Konsequenz der Ausbildung weiß man, dass man Techniken und Fertigkeiten vermitteln, Freiräume anbieten, aber keine „Künstler“ ausbilden kann.
Für die Kreativitätsforschung heißt das analog: Man kann Menschen damit vertraut machen, gewohnte (Denk-)Strukturen aufzuheben und divergentes Denken ebenso zuzulassen wie das freie Assoziieren etc. Ob jedoch mehr herauskommt als „die kleine Kreativität“ für den Alltag (und Beruf) oder jemand Ideen entwickelt, die länger Bestand haben, bleibt notwendig offen. Dann wird man auch „Kreativitätstechniken“ mit Humor nehmen, die es schon für eine „Methode“ halten, das „brain storming“ aus dem eher trögen Konferenzraum in ein Restaurant zu verlegen, wo die Atmosphäre so viel freundlicher und damit „kreativitätsfördernd“ sei … Mitunter scheint, dass sich auf Techniken und Methoden kapriziert, wem es an eigener Kreativität mangelt. Wenn auch das nicht hilft, kann man immer noch die Hirnforscher zu Rate ziehen und einen Teil des Gehirns mit einem Magneten ausschalten: Kreativität durch Magnetresonanz (Kast, Genie, 2007)
Aufhebung der Zweckbindung von Kreativität an Utilitarismus
Eine Option wäre, die Zweckbindung von Kreativität an einen (in der Regel ökonomistisch) determinierten Utilitarismus (das Nützlichkeitsdenken) zu lösen. Man kann darüber streiten, ob es tatsächlich „zweckfreie“ Formen der schöpferischen Leistung gibt, zumal jede Form des Hervorbringens zumindest an einen Rezipienten und seine Wahrnehmung gebunden ist. Man kann darüber streiten, ob es das zweckfreie Spielen im Sinne des Huizinga’schen „homo ludens“ gibt oder alles nach Nützlichkeitskriterien betrachtet (und bewertet) werden muss. Das selbstvergessen Spiel ist genauso bedeutend und wichtig wie jede selbstvergessene Form des Bei-sich-Seins, aber manch einer hält jedes Spiel für Training auf einen Zweck hin. Doch gilt: „… der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Schiller, Schriften II,1966, S. 48)
Vielleicht zeigt ein abschließendes Beispiel, welches Potential im „schöpferischen Menschen“ liegt, wenn es nicht um instrumentalisierte Problemlösungsstrategien geht, sondern um neue Ideen und deren Angebot als Erfahrung: In der Halberstädter Burchardikirche wird seit 2001 ein Orgelstück von John Cage aufgeführt, einem Vordenker der avantgardistischen Musik. Das Stück „Organ2/ASLSP“ besteht aus einzelnen Dauertönen, die einmal im Jahr geändert werden und ab und zu erklingt ein Akkord. Da das Stück laut Anweisung „as slow as possible“ gespielt wird und die Notation mit einer Pause beginnt, begann das Konzert zwar 1987, der erste Ton war jedoch erst 2003 zu hören. N
icht dramatisch, da das Konzert noch bis zum Jahr 2640 dauert (kein Tippfehler). Völlig absurd, mag man denken und eher technische Fragen stellen (wie spielt eine Orgel 639 Jahre), weicht aber der implizierten Frage aus: Wie geht man mit Ereignissen um, die unseren Zeithorizont übersteigen, unserer Erfahrung nicht zugänglich ist? Ist so ein Konzert überhaupt noch ein Konzert (da nicht hörbar), ist so eine Komposition noch eine Komposition (da nur als Notation lesbar)? Das Kriterium „neu“ ist gewiss erfüllt, eine Komposition ist vermutlich eine Schöpfung, ein Werk. Das Kriterium der „Nützlichkeit“ greift eher nicht?
Das vielleicht wichtigste Merkmal dieser Komposition und Aufführung ist es, keine Antworten zu geben, sondern uns aufzufordern, Fragen zu stellen. Nicht die Antwort, die Frage ist Stimulus für den kreativen Prozess.
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Literatur und Quellen (Auswahl)
o.A. [Königswege, 2008]Königswege zur Kreativität, Buchbesprechung Preiser, Siegfried; Buchholz, Nicola: Kreativität – Ein Trainingsprogramm für Alltag und Beruf, in: FAZ Nr. 302, 27. Dezember 2008, S. C1
Csikszentmihalyi, Mihaly [Csikszentmihalyi , Kreativität, 1997]: Kreativität, Stuttgart: Klett-Cotta, 1997
Förster, Jens; Denzler, Markus [Förster; Denzler, Kreativität, 2006]: Kreativität, in: Funke, Joachim; French, Peter: Handbuch der Allgemeinen Psychologie – Kognition; Reihe: Handbuch der Psychologie, Band 5, Berlin, Hofgrefe, Berlin, 2006, pp 446-454
Hegner, Cathrin [Fernsehen, 2009]: Das Fernsehen ist am Ende seiner Möglichkeiten. Neurobiologe Gerald Hüther über die Veränderung des Gehhirns durch die Nutzung von Internet und SMS, in Süddeutsche Zeitung vom 28. April 2009, S. 15 und http://www.suedeutsche.de/kultur/748/466332/text/
Huhn, Gerhard; Herrmann, Susanne [Huhn. Kreativität, 2005]: Mehr Kreativität wagen, in: Musikforum, oktober_dezember 2005_4, 2005, S. 10-14
Kast, Bas [Kast, Genie, 2007]: Wie werde ich ein Genie? Ein Wissenschaftler in Sydney behauptet: Wir werden kreativer, wenn wir Teile unseres Gehhirns mit einem Magneten ausschalten. Unser Autor ist hingeflogen und hat es ausprobiert, in: Zeitmagazin, Nr. 30, 2007, S. 23-26
Krause, Till [Krause, Klangwechsel, 2009]: Achtung, Klangwechsel. Das längste Konzert der Welt: In der Halberstädter Burchardikirche wird seit 2001 ein Orgelstück von John Cage aufgeführt. Daran soll sich auch in den nächsten 631 Jahren nichts ändern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 34 vom 10. Februar 2009, S. 34
Kuhn, Thomas S. [Kuhn, Revolutionen, 1991]: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt: Suhrkamp, 1991
Preiser, Siegfried [Preiser, Kreativitätstechniken, 2009]: Kreativitätstechniken – Beispiele Brainstorming, Brainwriting, Brainwalking; http://www.perso-net.de/Texte/Instrumente/Kreativitaetstechniken_Instrumente/index.html (PDF-Download 27.4.2009)
Preiser, Siegfried [Preiser, Kreativität, 2009]: Was ist Kreativität? http://www.perso-net.de/Texte/Konzepte/Kreativitaet/index.html (PDF-Download 27.4.2009)
Preiser, Siegfried; Buchholz, Nicola [Preiser, Kreativität, 2004]: Kreativität – Ein Trainingsprogramm für Alltag und Beruf, Heidelberg, Asanger, 2004
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Stroebe, Wolfgang; Nijstad, Bernard A. [Stroebe; Nijstad, Kreativität, 2004]: Warum Brainstorming in Gruppen Kreativität vermindert: Eine kognitive Theorie der Leistungsverluste beim Brainstorming, in: Psychologische Rundschau, Januar 2004 Vol 54, Mo. 1, 2-10
Westerhoff, Nikolas [Westerhoff, Kreativität, 2009]: Kreativität ist harte Arbeit. Schöpferkraft lässt sich kaum messen oder antrainieren – sie hängt vor allem vom Fleiß und auch vom Zufall ab, in: Süddeutsche Zeitung vom 16. Januar 2009, S. 16