Interview zur Bildungskrise mit Carl Bossard

«Üben kommt in der öffentlichen Schule schmerzhaft zu kurz»

Bildungskrise: Sinkende Deutsch-Noten, Angst vor Mathematik: Pädagogikexperte Carl Bossard fordert einen effektiveren Unterricht. Das Kerngeschäft der Schule, das Lernen, sei ob all der Reformen vergessen gegangen. Und er hat weitere Vorschläge.

Publiziert in: Tages-Anzeiger online: 27.08.2025, S. 22, Alexandra Kedves

Carl Bossard (75) war Lehrer mit Leib und Seele. In den Nullerjahren prägte er als Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug die hiesige Bildungslandschaft, gearbeitet hat er in seinem Leben auch als Primarlehrer, Sekundarlehrer, Gymnasiallehrer und als Rektor von Kantonsschulen. Doch wenn er als Experte (nicht nur als Grossvater) betrachtet, was seit einiger Zeit in den Klassenzimmern los ist, dann sorgt er sich um die Zukunft heutiger Jugendlicher.

Alexandra Kedves: Die Fähigkeiten im Fach Deutsch sind in deutschsprachigen Kantonen im Sinkflug, vom Französischdebakel oder der «Mathemisere» ganz zu schweigen. Im Steigen begriffen sind dafür die Klagen über die Situation im Klassenzimmer. Aus Ihrer Sicht als einer, der lange für die Lehrerausbildung verantwortlich war: Was ist da los?
Carl Bossard: Egal, von welcher Seite aus man auf das System Schule schaut – als Lehrperson, als Elternteil, als jemand, der Lehrer ausbildet, ja sogar als Schüler –, man nimmt wahr, dass etwas im Argen liegt. Vom Schweizer Lehrerverband LCH kommt viel zu schnell der Ruf nach mehr Ressourcen, mehr Personal. Aber das ist meiner Meinung nach nicht der springende Punkt.

Was verursacht die Schieflage?
Mit den grossen Reformen kam der einseitige Fokus auf die Makrostrukturen, die Organisation. Dabei ging vergessen, worum es in der Schule eigentlich geht: um das Lernen, das wirklich bildungswirksame Lernen. Vor lauter Konzentration auf umfassende Themen wie die Totalintegration praktisch aller Kinder ging das unter. Das hat Auswirkungen auf alle Fächer, nicht nur auf das Fach Deutsch.

Wie geht denn «bildungswirksames Lernen»?
Grundsätzlich gesprochen: Es braucht Zeit. Tatsächlich sogar viel mehr Zeit, als man dem Aufbau der einzelnen Lerninhalte heutzutage einräumen kann. Ich spreche von den «Mikroprozessen des Lernens», wie sie der Basler Lernforscher Gerhard Steiner schildert: systematisches Aufbauen und Verstehen; Konsolidieren durch Festigen und Üben; und schliesslich Anwendungsaufgaben stellen, um zu sehen, ob das Gelernte richtig verstanden und verinnerlicht wurde. Ganz wichtig ist zudem das Feedback des Lehrers, die Rückmeldung. Lernprozesse brauchen ein vitales Vis-à-vis; sie sind etwas Interpersonales.

Das klingt buchstäblich nach alter Schule. Doch gerade das endlose Rechenblätterlösen oder das Diktatschreiben von früher wurde ja unter den Generalverdacht des geistlosen Drills und der autoritären Knechtung gestellt.
Das ist eben ein Missverständnis. Üben befreit: Erst, wenn ein Fundament wie das Rechnen oder das verstehende Lesen vorhanden ist, kann man weiter aufbauen. Es braucht Kohärenz. Leider haben wir an den pädagogischen Hochschulen teilweise Einseitigkeiten propagiert. Der Slogan lautete in den letzten Jahren ganz undifferenziert «Vom Lehren zum Lernen». Dabei ist es doch so, dass die Autonomie des Kindes ja nicht der Ausgangspunkt sein kann, sie ist das Ziel. Das Dialektische des Unterrichtens fiel unter den Tisch – damit meine ich das Zusammenspiel der Mikroprozesse und die Inspiration durch die Interaktion mit dem Lehrer.

Führt Üben nicht zum viel zitierten «Ablöschen», zum «Schulverleider»?
Im Gegenteil. Wir wissen, dass selbst intelligente Kinder Mühe mit den Grundfertigkeiten im Rechnen und Lesen bekunden, wenn niemand mit ihnen übt. Ich kenne so manche Eltern, die mit ihren Kindern wiederholen – regelmässig. Nicht selten wird das Vertiefen gar an private Nachhilfeinstitute delegiert. Denn in der öffentlichen Schule kommt das Konsolidieren schmerzhaft zu kurz. Und ohne die Grundfertigkeiten fehlt der Boden, um verstehendes Lesen und selbstständiges Denken überhaupt zu entwickeln.

Sie meinen also, unsere Demokratie braucht Bürger und Bürgerinnen, die das beherrschen.
Nur so, durch die Mikroprozesse des Lernens, entsteht, was fundamental und in Zeiten von Fake News, KI und Chat-GPT unabdingbar ist: Bildung als «Unverführbarkeit», wie der deutsche Philosoph Hans Blumenberg sagte.

«Gerade lernschwächere Kinder kommen bei mangelndem Üben in der Schule unter die Räder.»

Verstärkt autonomes Lernen in der Schule die Chancenungerechtigkeit im Schulsystem?
Absolut. Die Chancenungerechtigkeit ist ohnehin ein Problem, und dadurch, dass Üben ein Fremdwort geworden ist, haben sich die Unterschiede in den Chancen noch verschärft. Gerade lernschwächere Kinder kommen bei mangelndem Üben in der Schule unter die Räder, und genau diese haben ausserdem oft niemanden, der sich ausserschulisch darum kümmern kann, dass sie üben.

Dafür macht die Schule ihre Schützlinge mit vielen neuen Entwicklungen vertraut. Sie ist gegenwärtiger als früher, ist das nicht positiv?
Die Schule von heute muss Kinder flexibel machen, bereit für eine Welt im permanenten Wandel. Aber das geht nur, wenn sie sich zuerst ganz unflexibel den Grundlagen widmen und ein solides Fundament haben. Zu viele Fächer wirken kontraproduktiv.

Das klingt ein wenig altmodisch.
Das darf es. Beginnen müssen wir ganz unflexibel, erst das macht uns zukunftstauglich. Also: Das Gelesene in eigenen Worten wiedergeben und damit die sprachliche Ausdrucksfähigkeit trainieren, kohärentes Schreiben einüben, grundlegendes Zahlenverständnis üben und immer wieder anwenden. Das schult gleichzeitig logisches Denken. Dazu gehört auch das Musisch-Kreative. Mit alldem schafft man die Basis und gewinnt die Fähigkeit zu Aufmerksamkeit und Ausdauer. Man lernt, sich konzentriert einer Sache zu widmen und sich nicht ablenken zu lassen.

Werden in Zeiten von Chat-GPT und anderer KI Grundkenntnisse in dieser Form nicht obsolet?
Im Gegenteil! Für den mündigen Umgang mit diesen Techniken sind die Fundamente essenziell. Und um dies zu erreichen, muss man den Lehrplan umbauen.

Was würden Sie daran ändern?
Erstens: Den Lehrplan 21 entschlacken, zugunsten von mehr Üben der Grundfertigkeiten. Wer die Fachinhalte ausdehnt, minimiert die Übungszeit, beides lässt sich nicht gleichzeitig maximieren. Darunter leiden vor allem der Kernbereich Rechnen und die Kulturtechniken Lesen und Schreiben. Der Lehrplan ist überladen: 470 Seiten, 363 Kompetenzen, 2304 Kompetenzstufen. Peter Bichsels Lehrplan als Primarlehrer damals umfasste ganze 20 Seiten!

Ein heisses Eisen: Was würden Sie streichen?
Zum Beispiel die zwei frühen Fremdsprachen der Primarschule; lernschwächere Kinder sind damit überfordert. Wenn überhaupt eine Fremdsprache, dann aus staatspolitischen Gründen in der Deutschschweiz ab der fünften Klasse Französisch und, in Analogie dazu, Deutsch in den welschen Kantonen. Englisch lernen die Kinder eh. Bei «Natur, Mensch, Gesellschaft» würde ich die vielen hektisch angerissenen Minithemen wie beispielsweise Schokolade oder Uniformen reduzieren, dafür mehr fokussieren auf zusammenhängende Bereiche wie etwa historisches Verständnis. Nicht alles braucht ein eigenes Fach; Medienkompetenz kann man integriert trainieren. Weniger ist mehr.

«Die Integration aller ist nicht die Voraussetzung für gutes Lernen. Sie ist das Ziel.»

Das würden Sie also streichen. Was würden Sie sonst ändern?
In der heutigen Organisation des integrativen Unterrichtsalltags haben wir zu viele Störungen und Diskontinuitäten; so bleiben die Lernprozesse unvollständig, wie gesagt, das Üben und Anwenden fehlt oder wird unterbrochen. Die so notwendige Kontinuität im Unterricht, die den Lernprozess erst ermöglicht, ist verschwunden. Das führt zum schnellen Vergessen. Das Lernen wird ineffizient, das wissen wir aus der Forschung. Hier wäre der Fokus zu setzen.

Was heisst das konkret?
Die Integration aller ist nicht die Voraussetzung für gutes Lernen. Sie ist das Ziel – auf das gewisse Kinder temporär allenfalls in einem anderen Setting, einer Förderklasse beispielsweise, vorbereitet werden, wenn auch im gleichen Schulhaus. Das ist keine Diskriminierung, sondern echte Chancengerechtigkeit. Für alle.

In: https://www.tagesanzeiger.ch/bildungskrise-in-der-schule-kommt-das-ueben-schmerzhaft-zu-kurz-856414374094 [abgerufen: 27.08.2025]