Hängt die nationale Kohäsion vom Frühfranzösisch ab?
Der Kanton Zürich will das Frühfranzösisch auf die Sekundarstufe I verschieben. Dort war es schon bis in die 1990er-Jahre. Die Reaktionen sind harsch – bis hinauf zum Bundesrat. Seltsam nur, dass kaum jemand nach dem Lernvermögen der Kinder fragt. Ein Zwischenruf.
Von Carl Bossard
Sünde ist ein Wort aus längst vergangenen Tagen – seit vielen Jahren entsorgt und mit ihm sicher auch der Sündenfall. Bildungspolitisch aber gibt es ihn, diesen Sündenfall. Begangen hat ihn der Züricher Regierungsrat und Reformturbo Ernst Buschor. Zuerst unterzog er das Spitalwesen einer Radikalreform und dann als Bildungsdirektor auch die Volksschule. Im Jahr 2000 überraschte er mit seinem Brachial-Entscheid: English first! Frühenglisch vor Frühfranzösisch hiess seine Devise. Das «moderne Esperanto» sei gefragt, die heutige Lingua franca; und sie lerne sich erst noch leicht, so seine Argumentation. Die Bedürfnisse der Gesellschaft und der Wirtschaft hatten Vorrang; sprachpolitische Befindlichkeiten und die helvetische Kohäsionsfrage rückten in den Hintergrund. Mit Konsequenzen – nicht nur für die Schulkinder.
Ernst Buschors Fait accompli hatte Folgen
Mehrere Kantone folgten Zürich; sie führten Englisch als erste Fremdsprache ein. Da waren’s auf der Primarstufe plötzlich zwei Fremdsprachen. Französisch, früher eine Domäne der Sekundarstufe I, ist erst in den 1990er-Jahren dazugekommen. Heute beginnen 14 Kantone mit Frühenglisch, die übrigen mit einer zweiten Landessprache. In der Regel wird die erste Fremdsprache ab dem dritten, die zweite ab dem fünften Schuljahr unterrichtet. Der Kanton Zürich macht hier eine Ausnahme; Englisch startet bereits in der zweiten Klasse. Im Modell 3/5 liegt seit 2004 die Sprachenstrategie der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren-Konferenz (EDK) begründet. Kein Französisch auf der Primarstufe kennen Appenzell Innerrhoden und Uri.
Die Bildungspolitik setzte das Konkordats-Konzept 3/5 mit den zwei frühen Fremdsprachen auf der Primarstufe durch. Die Warnrufe der Praxis fanden kein Gehör, ebenso wenig kritische Einwände aus der Wissenschaft. Im Gegenteil! Schubladisiert wurde auch die Langzeitstudie der Zürcher Linguistin Simone Pfenninger «Beyond Age Effects». (1) Sie stellte den propagierten Wert der frühen Fremdsprachen infrage. Doch die Bildungspolitiker glaubten; sie störte kein Zweifel.
Nach drei Jahren kaum ein Satz Französisch
Und diese Zweifel stellten sich bald ein. Eine repräsentative Studie von 2016 in der Zentralschweiz schockierte. Nur jeder 30. Achtklässler sprach lehrplangerecht Französisch, nicht einmal jeder zehnte erreichte die Ziele im Hörverstehen. Etwas besser, aber immer noch unbefriedigend, sahen die Resultate beim Lesen und Schreiben aus. Zu ähnlichen Ergebnissen führten Evaluationen in anderen Kantonen. Klagen und Kritiken glichen sich: «Manche Kinder können nach drei Jahren Französisch praktisch keinen französischen Satz sagen», tönte es von Lehrerseite im Raum Basel.
Die EDK hätte hellhörig werden müssen. Doch sie beschönigte. Der zweite Sündenfall! Die wissenschaftlichen Resultate wurden gar erst nicht zur Kenntnis genommen, die nackten Fakten negiert und Folgestudien sistiert. Denn, so schlossen Bildungspolitik und Verwaltung messerscharf, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Dabei hätte allen klar sein müssen: Wenn Bildungsidee und Wirklichkeit nicht übereinstimmen, leidet bloss die Wirklichkeit. Und das sind viele Kinder, vor allem lernschwächere. Manche jungen Menschen verlieren ob diesem Frust die Freude an Französisch.
Ernüchternde Wirklichkeit
Kaum jemanden überraschte es: Als bitterer Dämpfer erwiesen sich auch die Resultate des nationalen Sprachtests von 2023, die sogenannte Überprüfung der Grundkompetenzen (ÜGK). Lediglich 51 Prozent der Schüler erreichten im Fach Französisch die Lese-Grundkompetenzen, also die niedrigste Könnensstufe beim Leseverstehen. Konkret: Sie begreifen einfachste Sätze wie «Où est la gare?». Die andere Hälfte ist damit bereits überfordert. In lernschwachen Klassen erreichen oft nicht einmal 10 Prozent dieses Grundniveau. Drastisch formuliert bedeutet das: Nach 500 Lektionen Französisch verstehen viele Kinder kaum einen Satz! Eine solche Bilanz ist verheerend – dies in einem Land, das den Mythos der Viersprachigkeit pflegt.
Viele Schweizer Primarschülerinnen und -schüler sind mit zwei frühen Fremdsprachen heillos überfordert. Nicht umsonst sind in gewissen Klassen bis zu 30 Prozent der Kinder vom Frühfranzösisch dispensiert. Wir können auf der Primarstufe drei Sprachen unterrichten, wir können auf der Primarstufe die Grundlagen trainieren; wir können jedoch nicht beides gleichzeitig tun. Es ist höchste Zeit für unsere Volksschule, dass die Bildungspolitik darüber nachdenkt.
Französischunterricht soll warten
Doch die EDK hat ihre Hausaufgabe sträflich vernachlässigt. Immer mehr Deutschschweizer Kantone rütteln darum am Frühfranzösisch und riskieren einen nationalen Flickenteppich: Appenzell Ausserrhoden und Zürich haben entsprechende Motionen im Kantonsparlament bereits gutgeheissen. Im Thurgau, in Schwyz und St. Gallen sind Vorstösse hängig. Damit steht in mindestens fünf Kantonen ein späterer Französischstart zur Debatte.
Es ist vor allem der Entscheid im Zürcher Kantonsparlament, der auf Kritik stösst und ein grosses Medienecho auslöst. Bundesrätin Baume-Schneider spricht von einem «Affront» gegenüber der Romandie (2); die Westschweizer Medien reden von einem «guerre de langues» und sehen die «cohésion nationale» gefährdet. Zürich riskiere einen sprachlichen Bruch zwischen der West- und der Deutschschweiz, eine «fracture linguistique», heisst es. (3) Die Innenministerin droht und will notfalls vom Bund her intervenieren.
Bis 1990: kein Wort von Frühfranzösisch
Ist die nationale Kohäsion gefährdet? Wohl kaum! Dann wäre die Schweiz längst auseinandergebrochen. Der junge Schweizer Bundesstaat von 1848 stipulierte die öffentliche Volksschule; die revidierte Bundesverfassung von 1874 machte den Primarschulunterricht für alle Kinder obligatorisch und unentgeltlich. Kein Wort von Frühfranzösisch. Das kam erst in den 1990er-Jahren. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Fach der Sekundarstufe I vorbehalten. Die Primarschule kümmerte sich um die Grundlagen Lesen und Schreiben, Reden und Rechnen, die Realienfächer Geschichte/Geografie und den musisch-kreativen Bereich.
First things first!
Im Vordergrund standen die sogenannten Basics. Sie hatten Priorität. Darum erstaunt es, dass in der hitzigen Diskussion ums Frühfranzösisch das Lernen der Kinder und das Üben kaum zur Sprache kommen, nicht einmal auf bildungspolitischer Seite. Dabei wissen wir genau, wie es um die deutsche Sprache steht. Die Daten zeigen es: Jeder vierte Schüler verlässt unsere Volksschule, ohne dass er einen einfachen Text versteht. Es fehlt am verstehenden Lesen.
Die staatspolitische Öffnung ist gar nicht adäquat möglich, wenn schon die Deutschkenntnisse ein undifferenziertes Denken spiegeln. Ein Sündenfall, diese Tatsache nicht zu thematisieren. First things first! heisst es. Und dazu zählt bei uns das Grundlagenfach Deutsch. Es öffnet Türen.
Literatur undQuellen
Interview zum Fremdsprachenstreit
Zürich schafft Frühfranzösisch ab: «Ein Fehlentscheid auf der ganzen Linie!»
Der Entscheid sei populistisch, gefährde den Zusammenhalt der Schweiz und koste Millionen. Das sagt Erziehungswissenschaftlerin Christine Le Pape Racine. Von Nina Fargahi, publiziert am 04.09.2025.
- Simone E. Pfenninger, David Singleton (2017), Beyond Age Effects in Instructional L2 Learning. Revisiting the Age Factor. Bristol: Multilingual Matters
- Claudia Blumer, «Der Zürcher Entscheid ist für die Romandie ein Affront», in: SonntagsZeitung, 07.09.2025, S. 2
- Zeno Geisseler. Ein «sprachlicher Bruch», in: NZZ, 09.09.2025, S. 12