Bonjour, Untergang Schweiz!

Oder: Wenn das Lernen der Kinder ausgeblendet wird

Der Entscheid des Zürcher Kantonsrats wirft Wellen. Nicht nur im Welschland. Auch bei den Involvierten. Die Schweiz steht am Abgrund. Und warum? Weil Zürcher Kinder künftig erst in der Oberstufe lernen, dass bonjour nicht das Maskottchen eines Freizeitparks ist. So jedenfalls klingt es, wenn Erziehungswissenschaftlerin Christine Le Pape Racine den Fremdsprachenentscheid des Zürcher Kantonsrats kommentiert. Ein Zwischenruf

Kommentar von Carl Bossardzum Artikel von Christine Le Pape Racine im Tages-Anzeiger vom 5. September 2025. 

Unter dem etwas reisserischen Titel «Ein Fehlentscheid auf der ganzen Linie» nimmt Christine Le Pape Racine zum Beschluss des Zürcher Kantonsparlaments Stellung. Bis 2016 war sie Co-Leiterin der Professur für Französischdidaktik und ihre Disziplinen an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Zudem fungierte sie als Präsidentin der APEPS (Association pour l’Enseignement Plurilingue en Suisse), einer Vereinigung zur Förderung des mehrsprachigen Unterrichts in der Schweiz.

Einseitige Untergangsrhetorik
Die Expertin, die seit Jahrzehnten für das Primarschulfranzösisch kämpft, sieht im demokratischen Entscheid einen kostspieligen, populistischen Rückschritt, der die Mehrsprachigkeit, die nationale Kohäsion und die Bildungsqualität gefährde. Stattdessen plädiert sie für einen frühen, bilingualen Unterricht als nachhaltiges Modell (TA-Artikel vgl. ANHANG).

Le Pape Racine fährt schweres Geschütz auf. Politiker bezeichnet sie pauschalisierend als «populistisch», Kinderärzte als fachfremd, Eltern als «demotiviert». Und der gleiche Sound zieht sich durch: «Millionen in den Sand gesteckt», «verheerende Folgen», «Strukturen […] zerstört», «Herr Jenni [sei] Mediziner, kein Sprachenforscher», lamentiert sie. So tönt Titanic-Rhetorik! Man wähnt sich mitten in der Lektüre von Oswald Spenglers «Der Untergang des Abendlandes». Tatsächlich aber geht es um das Verschieben des Französischunterrichts von der Primarstufe und auf die Sekundarstufe I – dorthin, wo diese Sprache bis in die 1990er-Jahre gelehrt und gelernt wurde – also fast 130 Jahre lang, seit die revidierte Bundesverfassung von 1874 den Volksschul-Unterricht für obligatorisch erklärt hat. Notabene ohne Frühfranzösisch. Die Schweiz ist deswegen nicht implodiert.

Le Pape Racines Lagebericht erweckt den Eindruck: Wer das Frühfranzösisch auf der Primarstufe streicht, zersägt gleich den Bundesbrief und reicht die Romandie an Frankreich zurück. Die nationale Einheit hängt am Französisch in der Primarstufe.

Von den Kindern ist kaum die Rede
Und die Kinder? Die kommen im ganzen Drama erstaunlich wenig vor. Wenn schon, dann lediglich als Kostenfaktor oder als statistische Grössen mit «nicht überfordert». Man liest viel über Hochschulen, Lehrmittelverlage und die Entsorgungskosten der Bücher, über Austauschprogramme und Lehrpersonen in der Sinnkrise, weil das Frühfranzösisch auf dem Prüfstand steht.

Aber wie sich ein Zehnjähriger fühlt, der neben Deutsch als Zweitsprache, Frühenglisch, Rechnen, den diversen Themen von Natur-Mensch-Gesellschaft NMG usf. noch Französisch lernen soll – und das ohne Elternhilfe oder Privatunterricht bei Lerninstituten –, das bleibt ein gut gehütetes Geheimnis. Vielleicht, weil das weniger Schlagzeilen bringt als die Aussicht, dass Movetia-Projekte, die Förderangebote für Austausch- und Kooperationsprojekte, gefährdet sind.

Und wenn doch einmal von Kindern die Rede ist, dann nur in Tabellenform: 48 Prozent können lesen, 39 Prozent hören – Zahlen, die so klingen, als hätten Kinder keine Köpfe, sondern nur Prozentwerte.

Wenn die lernschwächeren Kinder vergessen werden
Völlig vergessen geht dabei das Lernen der Kinder: das Aufbauen und Verstehen; das Konsolidieren durch Festigen und Üben; und schliesslich die Anwendungsaufgaben, die sicherstellen, dass das Gelernte richtig verstanden und verinnerlicht wurde. Davon ist nicht die Rede. Dies wohl deshalb, weil die ganze Debatte politisiert und institutionell geführt und die pädagogischen Alltagsperspektive ausgeklammert wird.

Sehr geehrte Frau Le Pape Racine, vielleicht wäre es ehrlicher, zu fragen: Wie lernen Kinder wirklich? Und warum zeigen die bisherigen Millionen-Investitionen kaum nennenswerte Resultate? Ja, warum denn?

«En Suisse on s’entend bien parce qu’on ne se comprend pas.»
Manche Unterrichtslektionen Primarschul-Französisch (5./6. Klasse) habe ich besucht – und nachdenklich jeweils die Stunde verlassen. Was haben die Schülerinnen und Schüler gelernt? Und was nehmen sie mit, wenn sie im «bain de français» ertrunken sind bzw. gar nichts verstanden haben? Dabei hatte ich vor allem die schwächeren (nicht schlechten) Kinder vor Augen. Und, so fragte ich mich weiter, wie viel wertvolle Zeit geht dadurch für andere Fächer verloren? z.B. fürs verstehende Lesen im Fach Deutsch! First things first!

Die Resultate sind ernüchternd, doch die EDK und auch Sie, Frau Le Pape Racine, halten zäh an ihrem Entscheid der zwei Fremdsprachen auf der Primarstufe fest. Die nackten Fakten werden ignoriert. Für mich unverständlich. Frei nach Hegel verfährt man hier nach der Devise: Wenn Idee und Wirklichkeit nicht zusammenpassen, dann ist das bloss schlimm für die Wirklichkeit. Das sind hier leider die Kinder, die leistungsschwächeren. Und um die geht es mir. Die Realität mit den zwei frühen Fremdsprachen auf der Primarstufe benachteiligt diese Kinder, weil die Visionen nicht halten, was sie versprechen. Ob da ein bilingualer Unterricht mehr bewirkt?

Ich weiss: «En Suisse on s’entend bien parce qu’on ne se comprend pas.» Das sagen die Waadtländer: «In der Schweiz kommen wir gut miteinander aus, weil wir uns nicht verstehen.» – Und die Schweiz lebt trotzdem.

Das schreibt einer, dem das Französisch wirklich am Herzen liegt, einer, der fürs Sekundarlehrerstudium lange in Montpellier weilte, der die Culture française bewundert und das Fach gerne unterrichtet hat. Avec passion!

Interview zum Fremdsprachenstreit (Tagesanzeiger, CH)
Zürich schafft Frühfranzösisch ab: «Ein Fehlentscheid auf der ganzen Linie!»