Tim Engartner – Raus aus der Bildungsfalle

 Tim Engartner (2024) Raus aus der Bildungsfalle Tim Engartner (2024): Raus aus der Bildungsfalle. Warum wir die Zukunft unserer Kinder gefährden, Neu-Isenburg: Westend, 240 Seiten, Rezension erschienen in engagement 2025 Jg. 43, Heft 1, Zeitschrift für Erziehung und Schule

Das Schulversagen

Einigkeit besteht über das Versagen der Schulen, nicht über Lösungswege. „PISA, TIMSS, IQB-Bildungstrend oder IGLU – alle großen Bildungsstudien kommen zum gleichen Ergebnis: Die Leistungen der Schüler:innen in Deutschland sind nicht nur rückläufig, auch die soziale Schere bleibt dabei im internationalen Vergleich groß. Bildungserfolg hängt hierzulande immer noch maßgeblich vom Elternhaus ab. Das gilt auch für die IT-Ausstattung von Kindern und Jugendlichen sowie deren digitale Kompetenzen“ (FBD 2024a).

Die im November 2024 veröffentlichte ICILS-Studie zu IT-Kompetenzen bestätigt das. 40 Prozent der Achtklässler können zwar tippen und wischen, aber die Inhalte von Websites nicht auswerten. Das Eingangszitat stammt allerdings nicht aus dem neuen Buch von Tim Engartner „Raus aus der Bildungsfalle. Warum wir die Zukunft unserer Kinder gefährden“, sondern war eine Konferenzankündigung des Forums Bildung Digitalisierung, einer der über 60 Stiftungen, die sich dem Thema Bildung widmen. In der Analyse der Defizite und des dringenden Handlungsbedarfs sind sich Forum und Autor durchaus einig, in den Wegen aus der Misere hingegen nicht.

IT in der Bildung: Ein Werkzeug zu wessen Nutzen?

Das Forum und die Mitgliedsstiftungen, von Bertelsmann bis Telekom, setzen sich für noch umfassendere und schnellere „systemische Veränderungen und eine nachhaltige digitale Transformation im Bildungsbereich ein“. Sie erwarten bessere Lernleistungen durch den Einsatz von immer mehr, zunehmend autonom agierenden IT- und KI-Systemen. Tim Engartner, Professor für Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt ökonomische Bildung an der Universität zu Köln, hält unmissverständlich dagegen: „Digitalisierung ist nicht die Lösung, sondern das Problem.“

Mit dieser Ansicht steht er nicht allein. So kommt z. B. die UNESCO in ihrem Bericht „2023 Global Education Monitor“ mit dem Untertitel „Technologie in der Bildung: Ein Werkzeug zu wessen Nutzen?“ zu dem prägnanten Ergebnis, dass bei aktuellen IT-Konzepten für Bildungseinrichtungen nicht das Lernen und der pädagogische Nutzen im Mittelpunkt stehen, sondern wirtschaftliche Interessen der IT-Anbieter und Aspekte der Datenökonomie (UNESCO 2023).

Der UNESCO-Bericht ist nur ein Beispiel für das Umdenken beim Einsatz von IT in unseren Nachbarländern. Genannt seien die Stellungnahme des Karolinska-Instituts (2023) oder der vierte Bericht des House of Commons Education Committee (HoC 2024). Darin analysiert die Kommission Auswirkungen von Bildschirmzeiten auf Bildung und Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren und formuliert konkrete Empfehlungen für Schulträger, Eltern und den Gesetzgeber. Gefordert werden ein vollständiges Smartphoneverbot in Schulen und klare gesetzliche Regelungen zum Schutz der Unter-16-Jährigen. Nur in Deutschland findet diese Kurskorrektur bei der Digitalisierung in Bildungseinrichtungen (noch) kein Gehör.

Dabei sind auch nach mehr als 40 Jahren Einsatz von IT-Systemen im Unterricht weder Mehrwert noch Nutzen belegt. Im Gegenteil: Die weltweit größte empirische Metastudie über schulische Bildungserfolge benennt als wesentliche Faktoren für gelingende Lernprozesse das soziale Klima der Klassen- und Schulgemeinschaft (statt der Vereinzelung am Bildschirm) sowie die Haltung und das konkrete Handeln der Lehrperson im Präsenzunterricht (Hattie 2024). Technikfixierte behaupten hingegen, dass bereits die Frage nach dem Nutzen und Mehrwert von Digitaltechnik im Unterricht falsch gestellt sei. Digitaltechnik müsse als Teil der Lebenswirklichkeit ebenso Teil der Schulwirklichkeit werden.

Ihr Credo: „In Projekten, Publikationen und Veranstaltungen identifizieren wir Gelingensbedingungen für den digitalen Wandel an Schulen und navigieren durch die notwendigen Veränderungsprozesse“ (FBD 2022). Im Gefolge solcher Stiftungen finden sich selbstredend digitalaffine Lehrkräfte, Blogger und neuerdings „Bildungsinfluencer“, die Bildung ebenfalls nur noch „unter den Bedingungen der Digitalisierung“ diskutieren wollen.

Notwendige Gegenrede zum Digitalhype

Hier zeigt das Buch von Engartner faktenreich auf, welche „Baustellen der Bildungsrepublik“ durch den utilitaristisch umformulierten Bildungsbegriff und partikuläre Wirtschaftsinteressen entstanden sind. „Humboldt ade“ bedeutet Verzweckung von Bildung zur Ausbildung, selbst im Studium, bei gleichzeitiger Unterfinanzierung der Schulen. So greift eins ins andere: Aus der Pichtschen Bildungskatastrophe (1964) stolpern Kultusministerien und Schulträger in den PISA-Schock 2000. Sie vernachlässigen Pädagogik und (Fach-)Didaktik zugunsten der empirischen Bildungsforschung und des Glaubens an die (Ver-)Messbarkeit von Lernleistungen. Sie landen dadurch notgedrungen in der von Engartner benannten Bildungsfalle.

Das Ergebnis: Verzweckung der Bildung, Lehrkräftemangel und Kompensation durch Quereinsteiger bei gleichzeitiger Überforderung durch Zuwanderung und Kinder ohne oder mit nur mangelhaften Sprachkenntnissen. Dazu kommt die Fokussierung auf messbare „Kompetenzen“ samt kleinteiligen Kompetenzrastern und -stufen nach Parametern der eingangs zitierten Testreihen. Das ist die logische Folge der neoliberalen Ökonomisierung von Bildung samt expandierender Privatisierung.

Renaissance der Bildung statt Elitismus

Wer es sich leisten kann, bewahrt die eigenen Kinder vor öffentlichen Bildungseinrichtungen. Diese Form des Elitismus gefährdet demokratische Strukturen und das Gemeinwohl. Engartner fordert daher als Antidot eine verlässliche und solide finanzierte Bildungspolitik als präventive Sozialpolitik. Man kann seine Vorschläge für eine „Renaissance der Bildung“, auch im Hinblick auf Nachbarländer und deren Konzepte, durchaus kontrovers diskutieren. Aber wer realisiert, dass die Geschäftsmodelle der Digitalwirtschaft sich zu einem Überwachungskapitalismus (Zuboff 2018) entwickelt haben, der in Bildungseinrichtungen zur Überwachungspädagogik und Probandensteuerung genutzt werden kann, dürfte offen sein für Engartners Vorschläge. Er definiert Unterricht und Lernprozesse nicht über Technik und Messbarkeit, sondern als Aufgabe des Sozialstaats, allen Kindern und Jugendlichen gleichberechtigte Bildungschancen zu ermöglichen, statt in der Bildungsfalle zu landen.

Ralf Lankau

Link zum Verlag: Engartner, Tim (2024): Raus aus der Bildungsfalle.

Folgende Literatur wurde referiert:

FBD (2024a): Einladungstext des FormBildungDigitalisierung zur Konferenz BiildungDigitaliserung, 2024, https://www.dieter-schwarz-stiftung.de/aktuelles/konferenz-bildung-digitalisierung-2024-chancengerechtigkeit-im-zeichen-des-digital-divide.html (Zugriff 04.02.2025).

FBD (2022) Forum Bildung Digitalisierung: https://www.forumbd.de/verein/; (Zugriff 7.2.2025).

Hattie, John (2024): Visible Learning 2.0. Deutschsprachige Ausgabe von „Visible Learning: The Sequel“; besorgt von Stephan Wernke und Klaus Zierer, Baltmannsweiler.

HoC (2024): House of Commons Education Committee: Screen time: impacts on education and wellbeing. Fourth Report of Session 2023–24. Report, together with formal minutes relating to the report. Ordered by the House of Commons to be printed 23 May 2024, https://committees.parliament.uk/publications/45128/documents/223543/default/ (Zugriff: 04.02.2025).

Karolinksa (2023): Stellungnahme des Karolinska-Institutes zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung (Schwedisch): Beslut om yttrande över förslag till nationell digitaliseringsstrategi för skolväsendet 2023–2027. (Ert dnr U2022/03951, vårt dnr 1-322/2023), Solma.

Picht, Georg (1964) Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation. Freiburg im Breisgau.

UNESCO (2023): Technology in education. A tool on whose terms?, https://www.unesco.org/gem-report/en/technology (Zugriff: 04.02.2025).

Zuboff, Shoshanna (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt a. M.

Ralf Lankau ist Kunstpädagoge und Professor an der Fakultät Medien der Hochschule Offenburg. Sein pädagogisches Anliegen ist eine humane Digitalisierung. In jüngerer Zeit hat er die beiden Projekte „Die pädagogische Wende“ und „Futur III – Digitaltechnik zwischen Freiheitsversprechen und Totalüberwachung“ initiiert.
ralf.lankau@lankau.de