Antizipierende Schulbücher – ein Albtraum!

Forschungsfeld „Künstliche Intelligenz in der Bildung“

Von Cornelia Schwartz, Landesvorsitzende

Schöne neue Welt: Ein Quantensprung für die Bildung?

Allein die Terminologie, die verwendet wird, wenn es um antizipierende Schulbücher geht, scheint eine ganz neue Welt zu eröffnen. Für Vieles gibt es ausschließlich englische Begriffe, vielleicht, weil sie moderner erscheinen, vielleicht aber auch, weil man die Studien möglichst auf ein internationales Publikum hin anlegen möchte. Schließlich handelt es sich bei diesen Schulbüchern, glaubt man den Verheißungen der Forschungseinrichtungen, um nichts weniger als um einen Quantensprung für Bildung weltweit: mühelose Individualisierung, adaptive Lernsysteme, die Veränderung der Rolle des Lehrers hin zum Lernbegleiter, während Schülerinnen und Schüler immer mehr vom Gegenüber zum Beobachtungsobjekt werden …

An der Technischen Universität Kaiserslautern forscht Prof. Dr. Jochen Kuhn im Fachbereich Didaktik an seinem Projekt HyperMind. Entwickelt wird dabei ein sogenanntes antizipierendes Schulbuch für das Fach Physik (https://www.uni-kl.de/uedu/arbeitsfelder/unterrichtskonzepte-af1/hypermind/). Abgestimmt auf das Schulbuch sollen Lehrkräfte außerdem die Möglichkeit erhalten, mit dem sogenannten HyperMindBuilder passend zum Lehrwerk eigenes Material zu erstellen – in der dann sicherlich bald schon üppig bemessenen Vorbereitungszeit für den Unterricht …

Was genau macht ein antizipierendes Schulbuch – und wozu?

Ein antizipierendes Schulbuch ist nicht einfach nur ein Schulbuch in digitaler Form. Während Schülerinnen und Schüler damit arbeiten, misst der Computer verschiedene Details des Rezeptionsvorgangs, wertet sie individuell für jeden einzelnen aus und stellt sie der Lehrkraft zur Verfügung. Wer alles Zugriff auf diese Daten hat und zu welchem Zweck, ist unklar. Folgende Daten werden gesammelt und verarbeitet:

  • Mithilfe von Infrarotstrahlen wird die Augenbewegung beim Lesen gemessen; diese Blickerfassung nennt man auch Eye-Tracking: Gehen die Augen im Text zurück? Wie häufig? Wie weit? Wo bleibt das Auge hängen? Wo überfliegt es nur?
  • Mithilfe einer Wärmebildkamera wird die unterschiedliche Temperatur überall im Gesicht erfasst und auf einer Art Temperaturkarte dargestellt: Ist die Nasenspitze kalt, die Stirn aber heiß, bedeutet das, dass man sich mit etwas schwertut – ja vielleicht gar intensiv nachdenkt –, an sich nicht unbedingt ein negativer Vorgang während des Lernprozesses.
  • Ein smartes Armband misst den Puls, und Sensoren im Sitzkissen (kein Witz!) erfassen, was auch immer an Schwierigkeiten dort erfasst werden kann.

Der Computer kann dann individuelle Hilfen, Zusatzmaterial zum besseren oder tieferen Verständnis bieten, kann die Hürden höher oder niedriger hängen, den Lernenden einen möglichst barrierefreien Zugang zu den zu vermittelnden Inhalten bieten. Er interagiert mit den Lernenden, lernt aus deren Zögern, deren Verhaltensweisen, antizipiert so im weiteren Verlauf Schwierigkeiten, passt das Schulbuch an und baut Hindernisse so weit wie notwendig ab. Ist doch perfekt, könnte man denken.

Künstliche Intelligenz als „dauerkontrollierender Einmischer“

Das Fernsehmagazin „[W] wie Wissen“ berichtet über das antizipierende Schulbuch aus Kaiserslautern und lässt in der Folge mit dem Titel „Das Schulbuch der Zukunft“ vom 9. November 2019 am Ende des Beitrages auch kritische Töne anklingen. Junior-Professor Pascal Klein von der Technischen Universität Kaiserslautern nennt eine der Problemstellen: „Man muss aufpassen, dass der Schüler nicht entmündigt wird“. Um gleich darauf zu beschwichtigen: „Das heißt, natürlich kann das System Vorschläge machen, welche Lerninhalte er sich aneignen soll, welchen Lernweg er einschlagen soll, aber die Entscheidung, letztlich, muss doch noch beim Schüler selbst liegen.“

Bezüglich eines ähnlichen Forschungsvorhabens der Fernuniversität Hagen findet die dortige Projektleiterin, Prof. Claudia de Witt, deutlichere Worte: „Ein großes Risiko, dessen sind wir uns bewusst, kann natürlich sein, dass die künstliche Intelligenz ein dauerkontrollierender Einmischer wird. Daher ist es unbedingt notwendig, gerade zu Beginn, bei der Entwicklung, eine Balance herzustellen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung.“

Das antizipierende Schulbuch: Nomen est omen

Und genau darin liegt ein möglicher Konstruktionsfehler des antizipierenden Schulbuches, der schon in der Etymologie des Wortes antizipieren sichtbar wird: Antizipieren setzt sich aus den lateinischen Wörtern ante und capere zusammen und bedeutet, wörtlich übersetzt, „vorwegnehmen“. Und tatsächlich: Das Schulbuch nimmt etwas vorweg. Besonders deutlich lässt sich das in einem Werbevideo erkennen, welches die Technische Universität Kaiserslautern als Beispiel für den Einsatz der neuen Technologie der Blickerfassung, des Eye-Tracking, aufführt. Dabei geht es um einen aufbereiteten englischen Text, der denen, die ihn lesen, alle möglichen Krücken bietet.

Vokabelhilfen: Faul und träge im Schlaraffenland

Im genannten Videobeispiel verfolgt der Computer die Augenbewegung beim Lesen und blendet jeweils „gerade rechtzeitig“, wie es heißt, Hilfen ein. Zu einzelnen Wörtern werden Übersetzungen geliefert, sobald das Auge zu lange zögert. Eine weitere Art der Hilfestellung betrifft Komposita: Um Hürden zu senken, werden zusammengesetzte Wörter in ihre Einzelbestandteile unterteilt. Auf den ersten Blick wirkt das alles sehr schick und komfortabel.

„Automatisch“ ist das Zauberwort: Jede Anstrengung wird dem, der konsumiert, abgenommen. Man befindet sich gleichsam in einem Schlaraffenland, in dem einem die Brathähnchen einfach in den Mund fliegen. Allerdings: In einem solchen Schlaraffenland wird man faul, schlaff und träge. Dem Gehirn wird Denkleistung abgenommen, weil sie eben nicht notwendig ist. Neue Wörter zu lernen, ist überflüssig, denn die Übersetzung wird ja sofort eingeblendet, wann immer man hängenbleibt.

Wie Prothesen an gesunden Beinen

Lässt einem der Computer überhaupt eine Chance, sich die Bedeutung eines Wortes herzuleiten, ohne dass er gleich helfend eingreift? Wozu sich überhaupt neue Wörter einprägen oder sich selbst etwas erschließen? Es ist, als würde man sich Prothesen an gesunde Beine anziehen oder als würde man sich ohne eine erkennbare Notwendigkeit im Rollstuhl schieben lassen, bis allmählich die Beinmuskulatur ganz erschlafft.

Neben Übersetzungen von Vokabeln werden auch Sacherklärungen im Vorbeigehen geliefert, wenn man zu lange verharrt, und ebenso rasch und mühelos, wie sie erschienen sind, wird man sie möglicherweise auch wieder vergessen: Wie gewonnen, so zerronnen.

Ein Bombardement mit Informationen und völlige Überwachung

Zusätzlich öffnen sich im Text an manchen Stellen noch weitergehende Erläuterungen. Angenommen, das Auge stolpert über einen Begriff – im Video findet sich das Beispiel der Boa constrictor –, so ploppen automatisch Zusatzinformationen auf. Eine Horrorvorstellung: Nirgendwo kann man innehalten, ohne dass man bombardiert wird mit Informationen, ohne dass man vom Stöckchen aufs Steinchen kommt. Irgendwie erinnert das schöne neue Schulbuch an Internettexte, in denen sich ein Link oder Querverweis an den anderen reiht. Geht man jedem dieser Querverweise nach, kann man sich im dargebotenen Übermaß an Informationen leicht verlieren. Man müsste das Auge beständig weiterzwingen, um den Text überhaupt ungestört und ohne Unterbrechung lesen zu können.

Um der ständigen Bereitstellung von Zusatzinformationen zu entkommen, wird man daher eher dazu angespornt, den Text zügiger zu lesen, als man das eigentlich will – ohne die Gelegenheit, etwas tiefer wirken lassen zu können. Dabei wäre eigentlich das die Aufgabe der Didaktik: Lernende zum Verharren einzuladen, zum Entschleunigen, nicht aber sie dazu zu zwingen, beständig auf eine Kaskade neuer Informationen zu reagieren, vielleicht sogar in der Angst vor dem Überwachtwerden, in dem Bewusstsein, ständig durchleuchtet zu werden. Die Welt des neuen Schulbuches, sie scheint vor allem eines zu sein: ein Albtraum.

Fazit: Didaktik auf Irrwegen

Die derzeitige Konzeption des antizipierenden Schulbuches, in der einem der Löffel beim kleinsten Anzeichen einer Wissenslücke in den Mund geschoben wird, scheint wenig attraktiv. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Bedeutung des englischen Begriffs für das Füttern mit einem Löffel: Spoon-feeding bedeutet nämlich im übertragenen Sinne „jemanden bevormunden“, eine Person daran hindern, eigene Gedanken oder Handlungen zu entwickeln. Das kann wohl kaum unser Ziel sein und offenbart vor allem eines: Nicht alles, was technisch machbar ist, ist sinnvoll oder erwünscht. In diesem Fall hat sich die Didaktik auf Irrwege begeben.