Aufruf: Humane und emanzipierende Bildungspolitik vs. digitale Transformation (II): Hintergründe

Teil II:  IT und KI in Schulen.  Die Hintergründe

1 Picht, PISA und Partikularinteressen


Die Bildungspolitik in Deutschland steht seit mehr als 60 Jahren unter dem massiven Einfluss von Wirtschafts- und Lobbyverbänden, flankiert von (steuersparend formal gemeinnützigen) Stiftungen. Die von Stiftungen finanzierten Studien und publizierten Handlungsempfehlungen werden bundesweit verbreitet. Die Diskussion über notwendige Reformen der Schulen reichen dabei von Georg Pichts 1964 erstmals ausgerufenen Bildungskatastrophe über die Publikation der Ergebnisse der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 bis zum IQB-Bildungstrend 2022 (IQB 2023). Demnach erreichen 32,5 Prozent der Neuntklässlerinnen und Neuntklässler nicht einmal den Mindeststandard im Fach Deutsch, beim Zuhören sind es 34,4 Prozent, in der Orthografie 22,3 Prozent.

Viertklässler in Baden-Württemberg schneiden beim Test für die Schulempfehlung miserabel ab. Laut Kompass 4, mit dem u.a. der Leistungsstand in Deutsch und Mathematik in der Klassenstufe 4 erfasst wird, erreichen in Mathematik nur 6 Prozent der Schülerinnen und Schüler Gymnasialniveau (ab Note 2,5 und besser), 8 Prozent Realschulniveau (Note zwischen 3,0 und 2,6) und 86 Prozent (!) nur das grundlegende Niveau (Note 3,1 und darunter) für Hauptschulen (Kompass 4, 2025). Selbst bei „digitalen Kompetenzen“ reicht es bei 40% der 14-Jährigen nur zum Tippen und Wischen (ICILS, 2024) , obwohl laut mpfs und DAK Studien so gut wie alle täglich mit ihren Smartphones im Netz sind und sich lediglich die Nutzungsdauer von durchschnittlich 242 Minuten (mehr als 4 Stunden pro Tag, JIM-Studie 2023 für die 12- 19-Jährigen) auf bis zu 72 Stunden pro Woche (mehr als 10 Stunden pro Tag) für die 16-18 Jährigen steigert (Postbank-Studie 2024).

Diese Studien sind Beispiele einer expandierenden Testindustrie als Begleitphänomen des Wechsels von der Pädagogik zur empirischen Bildungsforschung. Statt in mehr pädagogisch qualifiziertes Personal vor Ort wird in Messverfahren, Statistiken und Psychologie investiert. So lassen sich zwar Lerndefizite bis in die Nachkommastelle belegen, die Gewinner sind aber nicht Lehrende und Lernende sondern die Testindustrie. Das ist für das deutsche Bildungssystem, vor allem für die Zukunft junger Menschen, verheerend, zumal es keine Momentaufnahme, sondern eine stabile Tendenz aller Leistungsvergleiche seit 2012 ist. Aber die fehlgebildeten Kinder und Jugendlichen haben das deutsche Bildungssystem nicht zu verantworten, sie haben nur eine Schulzeit und nicht alle bekommen die notwendige Nachhilfe und Unterstützung zu Hause. Laut PIAAC 2024 (Untersuchung zur Alltagsfähigkeit Erwachsener) beherrschen mehr als 20 Prozent der Erwachsenen beim Lesen selbst nur das minimale Kompetenzniveau der Stufe 1, was Texten für Zehnjährigen entspricht. Neun Prozent verstehen nicht mal diese Texte und können ihre Kinder daher bei Hausaufgaben nicht unterstützen. So alt wie die Klagen, so zahlreich sind die vielen bildungspolitischen Reformen, die durch fachfremde Akteure in das Bildungssystem gedrückt werden, um es nach ihren Interessen umzuformen. Dazu gehören:

  • neoliberale Forderungen nach Ökonomisierung und Privatisierung von Bildungseinrichtungen nach angelsächsischem Vorbild samt Gründung von privaten (Hoch)Schulen;
  • die Fokussierung auf Wi-MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik und nachgeschoben: Wirtschaft) und die Verzweckung von Fachwissen zur Berufsvorbereitung und Ausbildung statt Allgemeinbildung;
  • die Fixierung auf Lernsteuerung und Lernleistungsvermessung (Pressey, 1957) in Tradition psychologischer (Stern 1903, Münchenberg 1914) und kybernetischer Modelle (Wiener 1948) sowie Techniken des programmierten Lernens (Watson, 1913, Skinner, 1971)
  • die empirische Bildungsforschung mit Fokus auf Quantifizierung des Lernens samt Qualitätsmanagement, als wären Unterricht, Lernen und vor allem Verstehen standardisierte und normierbare Prozesse;
  • der Umbau der Curricula nach den Prämissen der Kompetenzorientierung, Aufsplitterung der Fachinhalte mit dem Ziel der kleinteilig mess- und prüfbaren Kompetenzstufen und – rastern statt Fachlogik und -struktur und Anschlussfähigkeit zu anderen Fächern und Disziplinen,
  • die immer stärkere Technisierung und Digitalisierung mit dem Ziel der automatisierten Beschulung und Prüfung, wie es Isaac Asimov in seinem Text „Die Schule“ von 1956 beschrieben hat.

Das ist jetzt zwar mit KI-Systemen, ChatBots und Avataren technisch (!) möglich, scheitert in der pädagogischen Praxis aber genauso wie das „programmierte Lernen“ in den 1950er Jahren (siehe Teil 2, Kap. 3) oder Facebooks Summit Learning oder den (mittlerweile geschlossenen) Steve-Jobs-Schulen in den Niederlanden. Aus Begeisterung für das technisch Machbare wird die problemorientierte zweite Seite der Medaille der Digitaltechnik in Deutschland systematisch ausgeblendet. Die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff hatte bereits 1988 in ihrem Buch “In The Age of the Smart Machine. The Future of Work and Power“ das Grundprinzip der Digitaltechnik ausbuchstabiert: Automatisieren. Digitalisieren. Kontrollieren.

Die Folge sind die heute dominierenden IT-Monopole und die Macht der Tech-Milliardäre, die der ehemalige US-Präsident Joe Biden, im Januar 2025 Oligarchen und eine Gefahr für demokratische Gesellschaften nannte. 30 Jahre nach ihrem oben zitierten Buch hat Zuboff die Weiterentwicklung digitaler Systeme durch das Entstehen von IT-Monopolen, Daten- und Plattformökonomie in ihrem Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ (2018) fortgeschrieben. 2025 ist dieser Konzentrationsprozess auf wenige Tech-Milliardäre und ihr direkter Einfluss auf Amtsträger demokratiegefährdend (z.B. Tik-Tok Verbot in den USA und Aufhebung von Urteilen per Dekret).

Die Prinzipien der Konsumenten- und Verhaltenssteuerung (Persönlichkeitsprofile zur Überwachungspädagogik werden auf Bildungseinrichtungen übertragen, mit allen Folgen der Selbstentmündigung durch die Abhängigkeit sowohl der Lehrenden wie der Lernenden durch den Einsatz intransparenter digitaler Systeme. Statt zu klagen sollte man Konsequenzen ziehen. Notwendig sind auf politischer und gesellschaftlicher Ebene die Rückbesinnung auf das Primat der Kant’schen Aufklärung, die Stärkung demokratischer Prinzipien gegen Populisten von Links wie Rechts und das Bekenntnis zur Einhaltung von Rechtsnormen und internationalen Gesetzen. Im Osten wie im Westen dominieren und/oder regieren immer mehr Vertreter von Willkür durch Finanzkraft, im Prinzip Faustrecht. Zu stärken ist die soziale Marktwirtschaft im Dienste des Gemeinwohls (Eigentum verpflichtet; Art. 14(2) GG) und zur Bewahrung des sozialen Friedens. Digitaltechnisch ist Souveränität das Ziel, wobei jede Technik dem Menschen als Werkzeug dienen muss und ihn weder in seiner Persönlichkeit noch seinen Entwicklungs- und Handlungsmöglichkeiten einschränken darf.

Die kritiklose Zustimmung zur digitalen Transformation demokratischer Gesellschaften und sozialer Einrichtungen (Bildung, Gesundheit, Pflege…) nach dem Spruch „Digital First“ ist unreflektiert, verantwortungslos und pflichtverweigernd. Technikfolgenabschätzung (DA) ist ein notwendiger Aspekt politischer Entscheidungsfindung in demokratischen Staaten und sozialen Systemen. Das ist umso wichtiger, wenn wenige Tech-Milliardäre über ihre IT-Monopole und Dienste (von der Suchmaschine bis zu sozial nur genannten Anwendungen) die öffentliche Meinung und z.B. Wahlen mit intransparenten Algorithmen und manipulativen Applikationen (nach Belieben) beeinflussen können. Fehlende Gegenwehr ließ Verstrickungen vermuten bis Musk und Trump ungeniert diesen neuen Absolutismus feierten.

2 Internationaler Widerstand und Vernunft statt falscher Versprechen

Weltweit realisieren immer mehr Regierungen, dass die dysfunktionale Nutzung digitaler Endgeräte und (un)sozialer Medien eine wesentliche Ursache negativer Entwicklungen für die körperliche, kognitive und psychische Gesundheit junger Menschen sind, und greifen regulatorisch ein. Die spanische Regierung hat dazu im Dezember 2024 den „Bericht des Ausschusses von Experten für die Entwicklung eines sicheren digitalen Umfelds für Kinder und Jugendliche“ veröffentlicht. Javier Zarzuela Aragón, Mitglied des Ausschusses, hat die wichtigsten Aspekte zusammengefasst:

  • Verringerung der Aufmerksamkeitsspanne, der Konzentration und des Arbeitsgedächtnisses;
  • Beeinträchtigung des Leseverständnisses und der Lesegewohnheiten;
  • Beeinträchtigung der Fähigkeit, Texte zu interpretieren und umfassende Notizen zu machen;
  • Beeinträchtigung des mathematischen Denkens bei der Nutzung von Bildschirmen oder digitalen Programmen sowie der mathematischen Leistung;
  • Verlagerung der handschriftlichen und manuellen Fertigkeiten;
  • Verzögerung und Verarmung der Sprache (Verständnis und mündlicher Ausdruck) und der sozialen Interaktion sowie
  • Verschlechterung der allgemeinen schulischen Leistungen (Aragon, 2024).

Damit reiht sich die spanische Regierung ein in die stetig wachsende Reihe der Kritiker, die als Wissenschaftler Handlungsbedarf einklagen oder als Ministerien bzw. Regierungen regulatorische Maßnahmen beschließen. Ein paar Beispiele

  • In Australien sind seit Januar 2025 kommerzielle Social-Media-Anwendungen erst ab 16 Jahren gestattet. Die australische Regierung begründet das Verbot mit massiven negativen Folgen für die physische und psychische Gesundheit, das Selbstwertgefühl und die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen durch diese Dienste.
  • Der dänische Minister Bildung und Kinder Mattias Tesfaye entschuldigte sich in einem Interview mit der dänischen Tageszeitung (Politiken vom 12. Dezember 2023) dafür, dass die dänische Regierung Kinder und Jugendlichen zu „Versuchskaninchen in einem digitalen Experiment“ gemacht habe. Die Schulen hätten sich den großen Tech-Konzernen zu lange unterworfen, man sei als Gesellschaft zu „verliebt“ gewesen in die Wunder der Digitalwelt.
  • Der UNESCO-Bericht „2023 Global Education Monitor“ („Technologie in der Bildung: Ein Werkzeug zu wessen Nutzen?“) kommt zu dem Ergebnis, dass bei aktuellen IT-Konzepten für Bildungseinrichtungen nicht das Lernen und der pädagogische Nutzen im Mittelpunkt stünden, sondern wirtschaftliche Interessen der IT-Anbieter und Aspekte der Datenökonomie.
  • Der Bildungsausschuss des britischen Unterhauses, ‚House of Commons‘, analysierte in seinem Bericht vom 23. Mai 2024 die Auswirkungen von Bildschirmzeiten auf Bildung, Wohlbefinden und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren und formuliert konkrete Empfehlungen für Schulträger, Eltern und den Gesetzgeber, die Nutzung digitaler Geräte und Dienste einzuschränken. (HoC 2024)
  • Mit der Veröffentlichung „Social Media and Youth Mental Health“ (U.S. Surgeon General, 2023) lenkte der Surgeon General der US-Gesundheitsbehörde die Aufmerksamkeit des amerikanischen Volkes auf ein dringendes Problem der öffentlichen Gesundheit: die Folgen des Umgangs mit Social Media Apps und Bildschirmmedien führten zu schweren psychiatrischen Störungen.
  • Die in 2022 neugewählte schwedische Regierung hinterfragte die Digitalisierung und beauftragte das Karolinska Institut (große Stockholmer Universität) zur Erstellung eines Gutachtens; mit dem Ergebnis, dass digitale Medien den Schülerinnen und Schülern nicht nützen. Die Digitalisierung der Schulen habe vielmehr große negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb (Karolinska, 2023).
  • Ein Gutachten für die Französische Regierung (Rapport, 2024) fordert, Kinder und Jugendliche vor den profitorientierten Strategien der Tech-Konzerne zu schützen. Kinder und Jugendliche würden zu „Ware“ degradiert, es ginge ausschließlich darum, die Aufmerksamkeit der Minderjährigen zu bekommen. Heranwachsende ab 15 Jahren sollten daher nur „ethische“ soziale Netzwerke nutzen, die sich als gemeinnützige Unternehmen definieren.
  • Aktuell verklagen in den USA 41 US-Bundesstaaten den Facebook-Konzern wegen Gesundheitsgefährdung von Kindern und Jugendlichen. Die Bundesstaaten werfen dem Konzern vor, seine Onlinedienste „auf manipulative Weise so zu gestalten, dass Kinder abhängig werden und zugleich an Selbstwertgefühl verlieren“.
  • Dazu kommen weltweite Diskussionen über Smartphoneverbote in Schulen.

Jonathan Haidt benennt in seinem Buch „Generation Angst“ (2024) die pathologischen und psychischen Folgen der Smartphone-Nutzung: Depressionen, Suicide, Ängste, Einsamkeitsgefühle und Stress stiegen bei Teenagern bis zum Dreifachen. Sozialkontakte und Freundschaften nähmen rapide ab. Stundenlange Sessions am Display führen zu Bewegungsmangel und Folgestörungen wie Verspannungen, Kopfschmerzen, Seh- und Schlafstörungen, Übergewicht usw. Der spanische Expertenausschuss für Jugend und Kinder schlägt daher konkret 107 Maßnahmen (Medidas) zur Schaffung eines sicheren digitalen Umfelds vor (Seiten 148 bis 196; Spanien 2024).

3 Zeitalter der Technisierung und Digitalisierung

Die notwendige Technik dafür liefern seit über 40 Jahren Computer und Anwendungsprogramme in den jeweiligen Gerätevarianten. Bereits begrifflich zeigt sich der Technikdeterminismus. Gesprochen wird von Personal Computer (PC) in Schulen, Laptop- und Tabletklassen, Schulen ans Netz, Computer oder Web Based Training (CBT, WBT) oder heute komplett netzwerkbasierte Dienste (Cloud Computing, KI-ChatBots). Jede neue Gerätegeneration und Applikation wird für das Unterrichten vereinnahmt und gilt sofort als unersetzlich. Dabei dominieren wirtschaftliche Interessen den Diskurs. Die Profiteure des Technikdeterminismus sind nicht die Lernenden, sondern die Anbieter (UNESCO, 2023). Die Plattformbetreiber immunisieren ihr Geschäftsfeld gegen jede Form von Kritik, indem sie versuchen:

„… ihre Digitalprodukte als Teil einer neuen Natur des Menschen zu etablieren und sich so jeder Diskutierbarkeit zu entziehen. (…) Die Digitalkonzerne hoffen, dass ihre Produkte, bevor sie reguliert werden können, so tief in den Alltag, die Körper und die Psyche ihrer Kunden eindringen, dass sie als untrennbarer Teil des neuen Menschen erscheinen.“ (Maak 2024)

Digitale Transformation von Unterricht bedeutet, Lernprozesse maschinenlesbar zu machen, um Verhalten zu steuern (siehe Glossar). Ziel ist die digitale Organisation von Schule und Unterricht. In Deutschland übernimmt diese Aufgabe für Bildungseinrichtungen das Forum Bildung Digitalisierung (FBD 2024), ein Zusammenschluss von derzeit 10 Stiftungen.1 Die digitale Transformation der Gesellschaft, so die Logik der IT- und Wirtschaftsverbände, verlange nach einer ebensolchen digitalen Transformation von Schulen. Dazu gehöre die „verpflichtende informatische und digitale Grundbildung in der Breite der Lehrkräfteaus- und -weiterbildung, verpflichtender Informatikunterricht für alle Schülerinnen und Schüler und mehr IT-Fachpersonal für die Schulen, um digitale Infrastrukturen aufbauen und dauerhaft pflegen“ zu können (Federrath, 2020).

Bereits die Frage nach dem Nutzen und Mehrwert von Digitaltechnik im Unterricht wird als absurd abgetan. Digitaltechnik sei Teil heutiger Lebenswirklichkeit, also müsse sie ebenso Teil der Schulwirklichkeit werden. Ihr Credo: „In Projekten, Publikationen und Veranstaltungen identifizieren wir Gelingensbedingungen für den digitalen Wandel an Schulen und navigieren durch die notwendigen Veränderungsprozesse“ (FBD 2022). Stellen werden ebenso in Richtung IT und Systembetreuung verschoben wie Schuletats und die Curricula der Lehramtsstudiengänge. Selbstredend finden sich im Gefolge solcher Stiftungen digitalaffine Lehrkräfte, Blogger und „Bildungsinfluencer“, die Bildung ebenfalls nur noch „unter den Bedingungen der Digitalisierung“ diskutieren wollen – ohne zu realisieren, dass Bildung das Instrument ist, um junge Menschen gegen solche Einflussnahmen zu stärken.

4 Deutschland rüstet digital weiter auf

Nach dem Digitalpakt Schule von 2018 (5 Milliarden Euro für fünf Jahre, in Folge der Pandemie aufgestockt auf 6,5 Milliarden) wurde Ende 2024 noch der Digitalpakt 2.0 verabschiedet, wieder über fünf Jahre. Der Schwerpunkt liegt laut Bundesregierung weiterhin auf dem Ausbau der digitalen Infrastruktur, digitalisierungsbezogener Schul- und Unterrichtsentwicklung und Qualitätsentwicklung in der digitalen Lehrkräftebildung.2 Nach den ca. 40.000 Schulen in Deutschland stehen jetzt die 600.000 Kitas und Kindergärten auf der digitalen Transformationsagenda um die „digitale Bildungslücke in Kitas“ (Mogenheim, 2025) zu schließen. Mit im Boot Digitallobbyisten wie der didacta-Verband, StartUps, Wagniskapitalgeber, Stiftungen – obwohl viele Länder, die mit Frühdigitalisierung experimentiert haben, mittlerweile den Einsatz von Digitalgeräten in KiTas und Grundschulen massiv einschränken oder gleich ganz verbannen. Muss Deutschland die Fehler der Nachbarländer erst selbst machen?

Fortschrittslobbyismus ist stärker als Erfahrungen der Nachbarländer, weil mittlerweile bessere Programme und Geräte zur Anwendung kommen. „Fortschrittsoptimismus ist selbst dann alternativlos, wenn die Technik sich dahin entwickelt, dass man sich vor ihr in Acht nehmen muss“ formuliert z.B. Rolf Schwartmann, Professor für Medienrecht und Vorsitzender der Gesellschaft für Datenschutz und Datensicherheit (GDD)in einem FAZ-Beitrag (Schwartmann, 2024). Das blendet die Pflicht zur Technikfolgenabschätzung (TA) (nicht nur beim Einsatz in Schulen) aus. Technikfolgenabschätzung als Disziplin der Technikphilosophie und Ethik ist ein notwendiger Aspekt politischer Entscheidungsfindung in demokratischen Staaten. Die TINA-Argumentation (Margeret Thatchers „There Is No Alternative“) mag zwar für Investoren wie Marc Andreessen relevant sein (siehe sein „Techno-Optimist-Manifesto“ und den Beitrag „Why AI will save the world“). Aber er will lediglich Rendite für sein Investment.

[Man sollte solche Texte gleichwohl lesen, um die Argumentation des „effective altruism“ (eine nur scheinsoziale Bewegung) und „Solutionismus“ (es gibt für alles technische Lösungen) einordnen zu können. Denn nach dieser Logik kann man heute die Erde ausbeuten und zerstören, weil man so das Überleben und die Zukunft der Menschheit in den nächsten Jahrhunderten durch die Besiedlung anderer Planeten sichert.]

Fortschrittsoptimismus blendet vor allem aus, dass nach der Veröffentlichung von ChatGPT (November 2022) im März 2023 mehr als 33000Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einem Moratorium (ein ergebnisoffener Diskurs) gefordert haben, über die möglichen Folgen von generativer KI vor der Weiterentwicklung und Veröffentlichung dieser Spielart künstlicher Intelligenz zu diskutieren (Future of life, 2023). In einem „Statement on AI Risk“ warnten mehr als 1300 IT- und KI-Experten vor den Folgen dieser Technik und setzen die möglichen Gefahren mit denen der Atombombe oder einer Pandemie gleich (Center for AI Safety,2023; Lankau,2025, Rehbein, 2018). Der Vordenker und Namensgeber der Kybernetik, Norbert Wiener hat bereits in seinem Vorwort zur ersten Auflage seines Kybernetikbuchs 1947 gewarnt:

„Diejenigen von uns, die zu der neuen Wissenschaft Kybernetik beigetragen haben, sind in einer moralischen Lage, die, um es gelinde auszudrücken, nicht sehr bequem ist. Wir haben zu der Einführung einer neuen Wissenschaft beigesteuert, die, wie ich gesagt habe, technische Möglichkeiten mit großen Möglichkeiten für Gut und Böse umschließt. Wir können sie nur in die Welt weitergeben, die um uns existiert, und dies ist die Welt von Belsen und Hiroshima.

Wir haben nicht einmal die Möglichkeit, diese neuen technischen Entwicklungen zu unterdrücken. Sie gehören zu diesem Zeitalter, und das Höchste, was irgendjemand von uns tun kann, ist, zu verhindern, daß die Entwicklung des Gebietes in die Hände der verantwortungslosesten und käuflichsten unserer Techniker gelegt wird.“ (Wiener, Kybernetik, 1963 S. 61f)

Das ist misslungen. Diese verantwortungslosesten und käuflichsten Techniker (samt Kooperationspartnern wie Programmierer, Marketingvertreter, Psychologen) lassen sich heute von A (Sam Altman, Open AI, mit Microsoft als Investor im Hintergrund) bis Z (Marc Zuckerberg, Meta) ausbuchstabieren. Das heißt, wir müssen die grundsätzliche Diskussion ob und ggf. wie wir IT- und KI-System nutzen, jetzt führen. Damit schließt dieser Aufruf an das Moratorium vom 17.11.2023 an, dass einen öffentlichen, transparenten und ergebnisoffenen Diskurs über die Digitalisierung von Schulen und Kitas und deren Folgen fordert. (Moratorium, 2023).

Fangen wir an mit der Diskussion über IT und KI in Bildungssystemen.

Kontakt: Redaktion „Die Pädagogische Wende“ (die-paedagogische-Wende@futur-iii.de)

Glossar

Algorithmus: Anweisung/Handlungsvorschrift zur Lösung von Aufgaben, bei Computern: Regeln zur Verarbeitung von Daten.

Artificial Intelligence (dt. Künstliche Intelligenz, vormals Kybernetik): mathematische Methoden (Mustererkennung, Statistik, Wahrscheinlichkeitsrechnung) zur automatisierten Datenverarbeitung.

ChatGPT (von engl. „to chat“ –plaudern, sich unterhalten) ist ein Programm, um Texte nach statistischen Methoden und auf Basis einer Datenbank zu vervollständigen. GPT steht für „Generative Pre-trained Transformer“.

Digitalisierung: Technische Transformation beliebiger Signale in ein maschinenlesbares Format (Digitalisate).

Digitale Transformation. Reorganisation beliebiger Prozesse (Kommunikation, Lehren, Lernen, Produktion …), um digital aufgezeichnet und ausgewertet/gesteuert werden zu können. In Folge zählt nur noch digital Abbildbares.

Digitale Zwillinge. Online-Dienste sammeln Nutzer- und Verhaltensdaten, generieren daraus digitale Zwillinge und sind in der Lage, individuelle Angebote zu berechnen, um Menschen möglichst lange am Bildschirm zu halten und ihr Verhalten zu steuern.

ICILS 2023. Laut International Computer and Information Literacy Study (ICILS) 2023 können 40 Prozent der 14-jähriger Achtklässler nicht mehr als Tippen und Wischen, obwohl sie über eigen Geräte verfügen und in den letzten zehn Jahren immer mehr digitale Endgeräte in die Schulen eingesetzt werden.

Generative KI. Automatisierte Datenverarbeitungssysteme, mit denen originär menschliche Fertigkeiten wie das Schreiben von Texten, das Gestalten von Grafiken, Präsentationen, Videos u.v.m. simuliert werden.

GPT steht für „Generative Pre-trained Transformer“ und ist ein großes Sprachmodell (engl. Large Language Model, LLM), dass mit großen Mengen an Texten trainiert wird und selbst generieren kann, ohne allerdings zu wissen, was da berechnet (generieret) wird.

Kybernetik. Steuerung. Der Kybernetiker ist der Steuermann. Kybernetische Systeme dienen der Prozessteuerung und -optimierung (Regeln. Messen. Steuern.).

Persuasive Technologien. Unternehmen nutzen gezielt persuasive (verhaltensändernde) Technologien und Psycho-Techniken, um Kinder und Jugendliche in ihrem Verhalten und Werteeinstellungen zu beeinflussen (falsche Körperideale, fiktive Traumwelten der Influencer etc.)

Plattformökonomie. Digitale Produkte und Dienstleistungen der Plattformanbieter sind auf Profit ausgerichtet, nicht auf das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen. Daher wird es Anbieterseits keinen auch nur annähernd ausreichenden Schutz gegen jugendgefährdende Inhalte geben.

Postdigitalität. Die vollständige Datafizierung menschlichen Verhaltens und Lebensräume werden, da allgegenwärtig, nicht mehr hinterfragt

Überwachungskapitalismus. Aus dem Freiheitsversprechen des Web (global village, hierarchiefreie Kommunikation) wurde der heutige Überwachungskapitalismus (Shoshana Zuboff, 2018). Wenige Anbieter dominieren den Markt und beeinflussen Nutzerverhalten, Einstellungen und Wertvorstellungen zu ihren eigenen Gunsten.


Humane und emanzipierende Bildungspolitik vs. digitale Transformation

Aufruf Teil I (Web): Nach dem Rausch kommt der Kater – IT und KI in Schulen
Aufruf Teil I (PDF ): Nach dem Rausch kommt der Kater – IT und KI in Schulen

Aufruf Teil II (Web): Nach dem Rausch kommt der Kater – Die Hintergründe
Aufruf Teil II (PDF ): Nach dem Rausch kommt der Kater – Die Hintergründe

Aufruf Teil III (Web): Nach dem Rausch kommt der Kater – Literatur und Quellen
Aufruf Teil III (PDF ): Nach dem Rausch kommt der Kater – Literatur und Quellen