Das Zwischenmenschliche des Unterrichts lässt sich nicht digitalisieren

Gastbeitrag zum Fernunterricht an verschiedenen Schweizer Gymnasien.

Von Carl Bossard.

Die Schweiz ist ein zutiefst föderalistisch aufgebauter Staat. Das ergibt sich aus seiner Geschichte. Bis zum Einmarsch napoleonischer Truppen 1798 war sie ein lockerer Staatenbund – in Gestalt der Traube. Napoleon erzwang den französischen Zentralismus, den Einheitsstaat im Symbol des Apfels. 50 Jahre lang dauerten die Verfassungskämpfe zwischen Einheitsstaat und alteidgenössischem Staatenbund, zwischen Apfel und Traube. Es gab Krieg; es floss Blut. Fast wäre die Schweiz auseinandergebrochen. Der Bundesstaat von 1848 brachte den Kompromiss – in Form der Orange: ein vielfältiges Land mit möglichst autonomen Gliedstaaten – dank einer föderativen Staatsstruktur.

Das zeigt sich auch im Bildungswesen. Die 26 Traubenschnitze, die Kantone, organisieren die Schule – zusammen mit den Kommunen. Gewisse Kantone holen nun ihre Gymnasiasten aus den „Corona-Ferien“ in den Präsenzunterricht zurück, andere belassen sie weiterhin im Homeoffice und beschulen digital. Die politischen Behörden berufen sich dabei auf Bundesvorschriften aus Bern. Warum versuchen sie nicht die Integration von gemeinsamen Unterrichtselementen, etwa in kleineren Gruppen und in zeitlichen Abständen? Allenfalls für Kernfächer oder bestimmte Klassen? Warum nicht lokale Lösungen? Und warum schaffen nicht alle Gymnasien, was Volksschulen seit Mitte Mai leisten können, auch wenn die Vorgaben für die Sekundarstufe II strenger sind?

Das bleibt vielen unverständlich. Sie ahnen intuitiv, was die Bildungsforschung nachweist: Der Online Unterricht ist ein wertvolles Instrumentarium; E-Learning erweitert und ergänzt die Lernformen. Doch der Präsenzunterricht im Klassenraum lässt sich nicht ohne Verluste in digitale Lernformate übertragen, Bildung lässt sich nicht auf technische Aspekte reduzieren. Keine noch so raffinierte virtuelle Methode kann den Kontakt in der Schule, kann den nachhaltigen, analogen Unterricht mit kooperativen Arbeitsformen und das gezielte Gespräch über komplexe Sachverhalte aufwiegen.

„Der Mensch wird am Du zum Ich“, sagte der Pädagoge und Religionsphilosoph Martin Buber. Auch das beste Digitalprogramm kann das menschliche Vis-à-Vis nicht ersetzen. Mit dem ferngesteuerten Lernen kommen darum nicht alle gleich gut zurecht. Das neue Lern-Setting benachteiligt vor allem lernschwächere Schüler und Jugendliche aus sozial weniger privilegierten Familien. Der Einsatz digitaler Medien ist für die meisten Schülerinnen und Schüler zwar unproblematisch. Was sie für ein gutes Lernen aber brauchen, ist ein engagiertes persönliches Gegenüber. Lernen braucht positive Beziehungen. Schule und Unterricht sind in vielem eben ein Resonanzprozess, ein Beziehungsgeschehen zwischen Menschen. Bildung entfaltet sich „in dichten Interaktionsprozessen mit Menschen und Dingen“, analysiert der Soziologe Hartmut Rosa. Diese Dichte fehlt beim Distanzlernen.

Die Digitalisierung geht davon aus, dass der Unterricht ein kontrollierbarer und damit planbarer Prozess sei – sozusagen ein linearer Start-Ziel-Lauf, präzis berechenbar und von Algorithmen gesteuert. Das Nebenhinaus, das Abweichende kommt kaum vor. Darum bringen nicht alle Kinder die notwendige Ausdauer auf, über längere Zeit einem digitalisierten Unterricht zu folgen. Sie langweilen sich bald einmal, weil keine Person wahrnehmbar ist und keine zwischenmenschliche Energie animiert. Es ist dieses „Dazwischen“ – dieses Emotionale, Beziehungshafte, Dialogische –, das den jungen Menschen die unentbehrlichen analogen Resonanzerfahrungen vermittelt.

Lerneffekte aus dem systematischen Aufbau von Wissen, Können und Verstehen gehen von Lehrpersonen und ihrem Unterricht aus. Sie müssen da sein fürs konstruktive Feedback, für einen heiteren Zwischenruf, für Anerkennung und Anregung, für Widerstand und Widerrede. Schülerinnen und Schüler brauchen die verstehende Zuwendung ihrer Lehrerin; sie müssen sich vom Lehrer wahr- und ernstgenommen fühlen. Der Ort schulischer Bildung ist eben nie die Struktur allein, nie die Methode allein und auch nie das (digitale) Medium allein. Der Ort schulischer Bildung ist die Interaktion zwischen Menschen. Dieses dynamische Dazwischen macht das Eigentliche und Wesentliche des Unterrichts aus. Und dieses Dazwischen, dieses „inter-esse“, gibt es beim Fernunterricht nicht: Es fehlt die zwischenmenschliche Energie, es fehlt das Aufmunternde und Spontane, es fehlt das Pulsierende des Klassenraums.

Das gilt nicht nur für die Volksschule, das gilt auch fürs Gymnasium. Verschiedene Kantone lassen darum ihre Gymnasiasten in den Resonanzraum des Schulzimmers zurückkehren.