„Digitales Lernen“ war eines der Hauptthemen der Didacta 2013 in Köln. „Digitales Lernen“ ist der Titel eines Berliner Magazins und auch der Titel eines Gastbeitrags eines Karlsruher Kollegen dort. Wer recherchiert, wird weitere Beispiele für „digitales Lernen“ finden. Man muss einen Beitrag über „Digitales Lernen“ daher heute zwangsläufig mit einer Banalität beginnen: Kein Mensch lernt digital. (April 2013)
Digital ist weder der Mensch noch das Lernen, digital codiert sind Medieninhalte und Medien. Digitaltechnik liefert die Infrastruktur für die Produktion und Distribution von digitalen Medien. Erst, wenn man sich das klar gemacht hat (und dem „Werbesprech der Marketinger“ über digitales Lernen die heiße Luft abgelassen) hat, kann man die notwendigen Fragen zum medialen und digitalen Hype sinnvoll stellen: Helfen digitale Medien und Anwendungen bei der Lehre – wenn ja: Wem, bei was? Und: Helfen Rechner, Software und Netzwerkdienste beim Lernen, wenn ja: Wem, bei was? Nebenbei bemerkt: „Medien im Unterricht“ sind eine Konstante seit den ersten Wachstafeln.
Für Antworten auf diese Fragen kann man die Hattie-Studie (Visible Learning, 2008; dt. im Mai 2013) zu Rate ziehen. Diese Übersichts-Studie belegt auf Basis von (in der aktuell ergänzten Ausgabe) über 900 Meta-Studien: Digitale Medien (Computer und Web) schaden nicht, nützen aber auch nicht – im statistischen Mittel. Auf deutsch und so trivial wie notwendig zu formulieren: Es kommt, bei analogen wie digitalen Medien, darauf an, was man damit im Unterricht macht, für was und wie man sie einsetzt.
Es gibt didaktische Szenarien, es gibt Altersgruppen und Unterrichtsthemen, bei denen der Einsatz von Computer, Software und selbst dem Web sinnvoll sein kann – wenn Informationstechnik als Werkzeug sinnvoll eingeführt, die Arbeit am Rechner aufmerksam begleitet und die Anwendungen unter Anleitung genutzt werden. (Zu thematisieren ist dabei ergänzend die Frage der entstehenden Datenspuren. Jeder Mausklick, jedes Wischen im Web wird gespeichert. Für Schulen mit minderjährigen Schutzbefohlenen stellen sich hier konkrete Fragen zum Datenschutz.) Digitale und Netzwerktechniken sind in Alltag und der Medienwirklichkeit junger Menschen so präsent, dass sie auch in der Schule, im entsprechenden Kontext thematisiert werden sollten.
Sinnvoll lässt sich ab der Mittelstufe mit Rechnern arbeiten. Vorher braucht man weder PC noch Tablet, Smartphone oder Netzzugang. Wer das für zu strikt hält, sollte sich amerikanische Schulen anschauen: Schülerinnen und Schüler, auch in der Oberstufe, geben ihre Smartphones beim Betreten der Schulen ab, damit Unterricht und konzentriertes Arbeiten möglich sind. Laptop-Klassen wurden wieder abgeschafft, auch in älteren Jahrgangsstufen sind die Restriktionen rigide. Denn: Niemand braucht Digitaltechnik notwendig zum Lernen.
Aber so, wie man Texte, Grafiken, Filme einsetzt, kann man auch mit digitalen Medien arbeiten. Ziel ist jedoch nicht die Bedienung von Software. Dafür genügen Tutorien und Übungen. Das lernen Schülerinnen und Schüler von ihren Geschwistern und Peers intuitiver und besser als manche Lehrende. Das Privileg der Jugend ist die oft größere Affinität für digitale Geräte und ein eher spielerischer und dadurch oft schnellerer Zugang zu digitalen Geräten und deren Bedienung. Dreijährige etwa lernen die Bedienung von Spielkonsolen (nach anfänglicher Anleitung) schneller als die meisten Erwachsenen, obwohl sie noch nicht einmal lesen können und die Menüs nur anhand der Wortbilder erkennen und anklicken.
Wenn man Informations- und Kommunikationstechniken im Unterricht (ab der Mittelstufe) thematisiert, müssen die Funktionsweise von Hard- und Software, von Netzwerken und dem dabei entstehenden Datentransfer vermittelt werden – und die Möglichkeiten des Zugriffs auf diese Daten. Statt Powerpoint-Präsentationen anhand von Templates mit gegoogelten Inhalten zu füllen, sollte man eigene Intranet-Server aufsetzen – und hacken. (Schülerprojekte sind immer Intranetprojekte, aus Datenschutz-, Rechts- und Sicherheitsgründen.)
Statt Referate und Hausarbeiten von entsprechenden Webservern herunter zu laden (und dafür zu bezahlen) oder per “copy and paste“ Leistungsnachweise zusammen zu kopieren, wird man eigene Wikis aufsetzen und sowohl die Inhalte dieser Wikis wie deren Struktur im Unterricht konzipieren und durch Arbeitsgruppen zusammentragen und einpflegen lassen. (Offline, selbstredend.) Der Fokus von Unterricht liegt immer auf dem Inhalt und dem Diskurs darüber, nicht auf der Bedienung von Werkzeugen. Man wird diesen Kindern und Jugendlichen demzufolge auch das Programmieren beibringen: als Sprache, so, wie Mathematik eine Sprache ist oder Musik, die alle nach spezifischen Regeln funktionieren und eine je spezifische Grammatik haben, die man als Sprache lehren und lernen kann.
An dieser Stelle sei noch einmal explizit darauf hingewiesen, dass man alles, was man lernen kann und möchte, ohne Rechner und Software lernen kann. Digitale Medien liefern lediglich eine spezifische Form der Codierung von Inhalten, die allenfalls unter dem Aspekt der technischen „Interaktion“ und „Rückmeldung“ Spezifika aufweist. Aber so, wie man ein Lehrvideo mehrmals anschauen kann, kann man Buchseiten mehrmals lesen. (Was, auch bei mehrmaligem Schauen oder mehrmaliger Lektüre, verstanden wird, ist eine andere Frage.) Statt Multiple-Choice-Fragen im Netz anzuklicken, kann man auch Übungsaufgaben im Buch bearbeiten, die Lösungen im Anhang nachschlagen.
In Frage steht, ob digitale Techniken und Medien für den Unterricht tatsächlich zu neuen Lehr-/Lernformen geführt haben oder nur bereits bislang existierende Konzepte auf neue Medien übertragen. Es sei an dieser Stelle ebenso explizit darauf hingewiesen, dass man nicht einmal für das Programmieren Rechner und Software braucht. Man kann Programme auf Papier schreiben. Erst zum Testen muss man sie kompilieren und als Programm ablaufen lassen.
Allerdings haben digitale Techniken, insbesondere Netztechnologien, zwei entscheidende Vorteile für Anbieter:
- Man kann jede Aktion jedes Nutzers exakt protokollieren und so individuelle Lernprofile (Stärken, Schwächen, typische Fehler) erstellen und daraus per Software die weiteren Übungen, Schwierigkeitsgrad, Zusatzaufgaben etc. berechnen lassen. Automatisierte Software wird zum „Lerncoach“ und bestimmt den weiteren Kursverlauf. Lehrer werden obsolet (siehe Murdoch und Gelernter). Das Lernen wird „individualisiert“, da jedes Kind vor seinem Rechner sitzt und sich mit einem eigenen Account einloggt, um „individuelle“ Angebote aus dem Fundus abzuarbeiten. Es gibt keine andere Technik, die so exakt jeden einzelnen Lerner protokolliert, identifiziert und anhand des Lernstands mit Inhalten und Aufgaben adressiert.
- Es gibt kein pädagogisches Modell, bei dem man mit so geringem Aufwand (sobald die Kurse erstellt, validiert und optimiert sind), so viel Geld verdienen kann. Das Prinzip der MOOC (Massive Open Online Courses) mit mehreren zehn- oder hunderttausend Teilnehmern, die vollautomatisch per Software „geschult und geprüft“ werden, zeigt die Richtung, die die „global player des Bildungsmarktes“ avisieren.
Wer IT im Unterricht einsetzt, sollte daher wissen, dass die dahinter stehenden Modelle Geschäftsmodelle sind und keine didaktischen Konzepte. Das mag man für richtig halten und forcieren in einer zunehmend medialisierten und zunehmend digitalisierten Welt. Man mag das für unumkehrbar halten (das ist das Thatchersche TINA: There Is No Alternative; eine antidemokratische Position). Es mag dem Zeitgeist geschuldet sein. Für irgendeine Technik muss man schließlich das (weniger werdende) Geld ausgeben und so werden Gelder systematisch von Personalausgaben in Technik umgeleitet.
Beruhigend mag sein, das selbst die ausgefeilteste Technik Kinder bisher nicht vom Lernen abgehalten hat (wobei es immer noch die Frage sein sollte, was und nicht nur ob sie etwas lernen; die Auswirkung von Fernsehgeräten, Privatsendern und Computern als „Lehrer“ sind bekannt). Nicht beruhigen kann das Suchtpotential, dass digitale Medien und Kommunikationstechniken auch bei Erwachsenen zeitigen. Oder, um nicht länger vom Kern abzulenken:
Wir müssen erst lernen, digitale Techniken sinnvoll und verantwortlich einzusetzen. Wir sollten die dazu notwendigen Versuche und Erfahrungen nicht mit und an Kindern machen.
Digitaltechniken sind wie Auto fahren. Es macht Spaß, erhöht die Reisegeschwindigkeit und den Bewegungsradius. Es ist aber nicht ungefährlich und verlangt ein Bewusstsein über mögliche Gefahren. Man würde keine(n) Vierjährige(n) ans Steuer lassen. Er oder sie wäre komplett überfordert. Ein Bobby-Car ist dem Entwicklungsstand und Bewegungsdrang Vierjähriger angemessener. Und auch ein(e) Zehnjährige(r) ist mit einem Fahrrad besser bedient, ohne das wir eines der Kinder abhalten wollten oder würden, als junge Erwachsene ihren Führerschein zu machen, um am Straßenverkehr teilzunehmen. Aber sowohl für das Führen eines Fahrzeugs wie für die Teilnahme am Verkehr bedarf es der notwendigen Reife.
Das auch nicht alle dem Alter nach Erwachsenen über diese Reife verfügen (im Netz gibt es dafür Millionen Belege in Form von Blogs, Tweets, Webpages, Bildern) ist kein Argument, bereits Kinder und Jugendliche hinters Steuer von Fahrzeugen zu setzen, bei denen sie selbst mit vier Kissen kaum übers Lenkrad schauen können (sprich: ohne Begleitung im Netz aktiv werden zu lassen). Keiner behauptet, Jugendliche könnten mit 17 Jahren nicht mehr Auto fahren lernen, nur weil sie mit vier Jahren lediglich Bobby-Car (oder Go-Cart o.ä.) gefahren seien.
Summa summarum: Wer Autohersteller oder Autoverkäufer fragt, ob junge Menschen mit 17, 16 oder 15 oder noch früher ihren Führerschein machen (können) sollten, wird das Einstiegsalter immer weiter nach unten korrigieren. Analoges gilt für Digitaltechnik: Wer Hard- und Softwareanbieter fragt, ab wann IT im Unterricht sinnvoll eingesetzt werden kann und sollte, wird ebenfalls zur Antwort erhalten: Je frühe, je besser. Die Disney-DVDs für Kleinstkinder (Baby Einstein; Baby Newton: ab 18 Monaten) dürften noch in Erinnerung sein, auch wenn sie mittlerweile vom Markt genommen wurden. Und man wird hohe Beträge einkalkulieren (müssen), was als Erstinvestition für regelmäßige Updates, neue Versionen und Geräte, Speichermedien, Cloud-Dienste, Schulungen und Serviceleistungen etc. zu zahlen sein wird: ad infinitum.
Digitaltechnik in der Schule ist ein Geschäftsmodell, das sich für die Hersteller und Verkäufer rechnet. Als Pädagoge fragt man nicht nach dem Nutzen für Anbieter und Verkäufer, sondern nach dem Nutzen für die einem anvertrauten Schülerinnen und Schüler – und kommt zu gegensätzlichen Ergebnissen.
Magazin für Digitales Lernen: https://www.digital-lernen.de
zu Robert Murdoch: Bildung ist das letzte Reservat
http://bildung-wissen.eu/kommentare/bildung-ist-das-letzte-reservat.html
zu David Gelernter: Cyber-teacher für Internetsklaven
http://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/cyber-teacher-fur-internetsklaven.html