Dringend gesucht: Lehrerin, Lehrer!

Wenn Lehrpersonen in Teilpensen fliehen oder die Schule verlassen

Von Carl Bossard

Sie reduzieren ihr Pensum oder steigen gänzlich aus: Lehrerinnen und Lehrer zu finden wird schwieriger. Warum? Die Aufgabenfülle in diesem Beruf wird grösser, der Auftrag anspruchsvoller. Dazu steigt der administrative Aufwand. Die Integration ganz unterschiedlicher Kinder in die gleiche Klasse verstärkt die Unruhe. Das erschwert den Unterricht und erhöht den Zeitbedarf fürs Einzelkind. Die vielen Koordinationsabsprachen mit den Betreuungspersonen sind aufwendig. Die Arbeitszeit reicht vielfach nicht aus. Die Überstunden summieren sich. Viele fliehen darum in Teilpensen. Ein Fakt mit Folgen.

Von den Zürcher Lehrerinnen und Lehrern arbeiten 80 Prozent in einem Teilzeitpensum; im Durchschnitt beträgt ihr Arbeitsumfang 69 Prozent eines regulären Pensums. Im Kanton Zürich werden momentan rund 800 Inserate für Dauerstellen und 200 für Stellenvertretungen publiziert – so viele wie noch nie zuvor. Im Kanton Luzern sind aktuell über 230 Stellen unbesetzt, im Kanton Bern 500 ausgeschrieben. «Lehrer sollen mehr arbeiten», fordern darum die Bildungsdirektionen. Sie wollen damit den akuten Lehrermangel bekämpfen. Doch nach den Gründen der reduzierten Pensen fragt kaum jemand. Vielfach begnügt man sich mit ein paar Klischees: Frauen- und Teilzeitberuf, Lehrerlarmoyanz und ähnliche Stereotype. Doch Vorurteile verdrängen die realen Ursachen.

Die Problematik liegt in der Reformkaskade der vergangenen Jahre. Bildung ist für die Verwaltungsstäbe, so mindestens macht es den Anschein, primär eine Frage der Systemsteuerung oder der Governance, wie es heute heisst. Alles ist planbar und machbar, alles ist berechenbar und steuerbar. Darum erfolgten in rascher Folge stets neue Top-down-Reformen. Das Ganze erinnert an den Systemtheoretiker Niklas Luhmann: «Beobachtet man das jeweils reformierte System, hat man den Eindruck, dass das Hauptresultat von Reformen die Erzeugung des Bedarfs für weitere Reformen ist.»

Wer die vielen Innovationen betrachtet, erkennt schnell, was radikal anders geworden ist: Den Schulen wird nicht mehr vorgegeben, was inhaltlich zu unterrichten ist. Heute wird detailliert dekretiert und genau geregelt, was die Schülerinnen und Schüler am Ende können müssen – und teilweise auch verordnet, wie das zu erreichen sei, also der méthodos, der Weg. Über den Lehrplan 21 werden Einzelkompetenzen festgelegt, und zwar sehr kleinparzelliert. Im Fach Musik beispielsweise wird von einem Kind gefordert: «Kann seinen Körper sensomotorisch wahrnehmen und musikbezogen reagieren.»

Das bedeutet einen Paradigmenwechsel. Die staatliche Strategie stellt von der «Input-» auf die «Output-Steuerung» um. So soll die Effizienz schulischer Bildungsarbeit erhöht und der Unterricht am operationalisierten Output gemessen werden. Im Fokus stehen das Kind und sein Output – unter den Kriterien der Messbarkeit. Ein solches System aber wird für viele zum Problem.

Aus der subjektiven Sicht eines Betroffenen klingt das so: «Dieses System engt mich ein», klagt ein Junglehrer. Er unterrichte gerne, aber er hetze vorschriftsgetreu von Kapitel zu Kapitel, von Thema zu Thema, schreibt er und fügt bei: «Vom Grossen und vom Ganzen bin ich weit entfernt: ein unzusammenhängendes Sammelsurium, ohne innere Kohärenz, ohne Zeit zum Vertiefen und Üben, ohne Chance zum Erlebnis und zum Musischen. Und dauernd muss ich beurteilen und meine Kinder in Kompetenzraster zwängen. Das widerstrebt mir. Die jungen Menschen auf den engen Kompetenzbegriff zu reduzieren, dazu bin ich nicht Lehrer geworden.»

Er wird weiterstudieren und geht der Schule vermutlich verloren. Wie so viele. Eine Einzelstimme zwar, aber kein Einzelfall. «Der Schule laufen die Lehrer davon», warnte die NZZ am Sonntag schon vor Jahren. Das Zeitungspapier ist vergilbt, das Problem aber bleibt. Bekannt ist es seit Langem. Man bekommt darum den Eindruck nicht los: Für gewisse Bildungsfunktionäre liegt die Lösung des Problems in der Negierung des Problems. Leidtragende sind die Schulkinder.