Bildungsausschuss fordert Smartphoneverbot in Schulen und Jugendschutz
Der Bildungsausschuss des britischen Unterhauses, ‚House of Commons‘ (HoC), hat am 23. Mai 2024 seinen vierten Bericht der Sitzungsperiode 2023-24 veröffentlicht. Darin analysiert die Kommission Auswirkungen von Bildschirmzeiten auf Bildung und Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren und formulieren konkrete Empfehlungen für Schulträger, Eltern und den Gesetzgeber. Gefordert werden ein vollständiges Smartphoneverbot in Schulen und klare gesetzliche Regelungen zum Schutz der unter 16-Jährigen. Großbritannien reiht sich damit ein in die Reihe der Länder, für die die kognitive und psychische Gesundheit Minderjähriger wichtiger ist als Geschäftsinteressen der IT-Monopole.
Grundlage dieses Berichts sind 50 schriftliche Stellungnahmen und vier mündliche Anhörungen von Experten unterschiedlicher Profession. Es wurden sowohl der Staatsminister für Schulen befragt als auch Schulen in Frankreich und den Niederlande besucht, um deren Umgang mit Smartphones und IT zu diskutieren. Der Besuch bei Google diente dazu, die Programme eines führenden IT-Anbieters zur Förderung der digitalen Kompetenz kennenzulernen. Als Ergebnis der Auswertung fordert der Bildungsausschuss strengere formale Beschränkungen und Richtlinien, um Kinder vor der Bildschirmzeit (screen time) zu schützen. Screen Time umfasst dabei alle Geräte mit Bildschirmen (Mobiltelefone, Tablets, Fernseher, Computer) und variable Nutzungen, von Schularbeiten über soziale Medien bis zu Computerspielen.
Stand der Wissenschaft in 32 Empfehlungen formuliert
In 136 Absätzen und 32 Empfehlungen fasst der Bericht den Stand der wissenschaftlichen Studien und Expertenmeinungen zusammen und formuliert für die britische Regierung konkrete Empfehlungen, was von Seiten des Gesetzgebers auch gegen die Geschäftspraktiken der IT-Anbieter zu unternehmen sei. Die schädigende Kombination aus allgegenwärtigen Smartphones mit Internetzugang und irreführenderweise ‚sozial‘ genannten „Social Media Apps“ auf die körperliche, geistige und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sei belegt, ein regierungsamtliches Eingreifen nötig. Das Einstiegsalter sinke. Laut Bericht beginnt die Nutzung von Bildschirmmedien in Großbritannien mit 6 Monaten (Kinderärzte wie Gesundheitsbehörden empfehlen, die ersten drei Lebensjahre von Kindern möglichst bildschirmfrei zu halten). Die vor Bildschirmen verbrachte Zeit der Kinder und Jugendlichen nahm in den letzten zehn Jahren erheblich zu und ist zwischen 2009 und 2018 von 9 Stunden auf 15 Stunden pro Woche gestiegen (die Corona-Pandemie mit erzwungenermaßen höheren Bildschirmzeiten ist nicht berücksichtigt).
Quellen und PDF:
Der vollständige Bericht (englisch)
HoC (2024) House of Commons Education Committee: Screen time: impacts on education and wellbeing. Fourth Report of Session 2023–24. Report, together with formal minutes relating to the report. Ordered by the House of Commons to be printed 23 May 2024,
Letzter Abruf: 26.8.2024:
PDF: https://committees.parliament.uk/publications/45128/documents/223543/default/
Analyse und Kommentar (Ralf Lankau, 7 Seiten)
Übersetzung der Zusammenfassung und der 32 Forderungen (11 Seiten)
Kurzfassung der Forderungen (3 Seiten)
Stellungnahme SEND (Fokus auf sonderpädagogische Förderung und Behinderung, 2 Seiten)
Weiterlesen:
Folgen hoher Bildschirmnutzungszeiten
Als Folgen hoher Bildschirmnutzungszeiten nennt der Bericht:
- Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten (Ablenkungspotential, Verringerung der Aufmerksamkeitsspanne und Konzentrationsfähigkeit, Verschlechterung des Arbeitsgedächtnisses und geringere Verarbeitungsgeschwindigkeit, schlechtere Sprachkenntnisse);
- negative Auswirkungen auf die geistige Gesundheit (erhöhtes Risiko für Depression durch fehlende reale Sozialkontakte bis zu erhöhter Gefährdung von Suizidalität;
- psychischer Anpassungsdruck in Bezug auf Körperbild und Selbstwertgefühl und Angstzustände – von der Angst, ausgeschlossen zu werden über Ängste, etwas zu verpassen (fear of missing out);
- physische Gesundheitsprobleme durch Bewegungsmangel und in Folge Übergewicht, Schlafmangel und Schlafrhythmusstörungen durch stimulierende wie verstörende Inhalte sowie blaues, aktivierendes Tageslichtspektrum am Abend.
Dazu kommen die Gefahren durch jugendgefährdende Inhalte. Laut Untersuchungen des Children’s Commissioner for England kommen 79 % der Kinder vor ihrem 18. Lebensjahr mit Gewaltpornografie in Berührung, durchschnittlich mit 13 Jahren. Besonders Mädchen und junge Frauen würden durch online publizierte Körperbilder unter Anpassungsdruck gesetzt. Auch bei Jungen und jungen Männern nähmen Körperunzufriedenheit und Essstörungen rapide zu. 81 % der Mädchen im Alter von 7 bis 21 Jahren hätten bedrohliches oder beunruhigendes Verhalten im Internet erlebt. Sexueller Missbrauch von Kindern sei bei der Nutzung von Bildschirmmedien möglich, die Zahl der Sexualstraftaten gegen Kinder im Internet sei seit 2013 um 400 % gestiegen. 19 % der Kinder im Alter von 10 bis 15 Jahren hätten mindestens eine Art von Mobbingverhalten im Internet erlebt, fast drei Viertel (72 %) davon gaben an, Derartiges in der Schule oder während der Schulzeit erlebt zu haben.
Soziale Medien und Online-Spiele sind zudem eine Möglichkeit für kriminelle Banden zur Rekrutierung neue Mitglieder. Kinder und Jugendliche sind ja nicht nur digitalaffin, sondern i.d.R. auch unbedarft und offen für neue Kontakte. Als besonders gefährdet werden Kinder und Jugendliche identifiziert, die in Armut leben und aus sozial schwachen Verhältnissen kommen, Kinder mit besonderen Bedürfnissen und junge Menschen, die selbst Angehörige pflegen und daher sozial oft isoliert sind.
Suchtentwicklung durch Verhaltenssteuerung
Ein besondere Aspekt des Berichts fokussiert auf die Suchtgefahren. Verhaltensabhängigkeiten entstehen durch soziale Interaktionen und Bestätigungen, die unbegrenzte Verfügbarkeit, fehlende Regulierung und Kontrolle und die grafische Gestaltung der Oberflächen der Apps und Spiele. Interaktive, animierte Elemente, farbige Schaltflächen, aufploppende Fenster, endloses Scrollen und kleine, unregelmäßige Belohnungen etc. erzeugen Neugier, gemischt mit einer ständige Erwartungshaltung.
Die in Apps eingesetzten persuasiven (verhaltensändernden) Technologien sind als Psychotechniken seit über 100 Jahren bekannt, sind Grundlage von Propaganda und Werbepsychologie zur Verhaltenssteuerung und lassen sich bei digitalen Endgeräten mit permanentem Rückkanal für das Probandenverhalten personalisiert und sekundenschnell anwenden. Aida Bikic, Psychologin an der Universität Süddänemark in Odense, erforscht die Auswirkungen von Bildschirmnutzung und sozialen Netzwerken auf Kinder und Jugendliche und benennt auch medienpädagogische Konzepte des „richtigen“ Umgangs mit Online-Medien illusorisch:
„Wir wollen digital gebildete Menschen. Aber das geht nicht mit den heutigen sozialen Netzwerken. Deren Technologie schafft Abhängigkeiten, macht süchtig. Kinder und Jugendliche können dem nicht standhalten. (…). Es ist unmöglich die Kinder zu einem bewussten Umgang mit den heutigen sozialen Medien und den Computerspielen zu erziehen. Das geht nicht mit dieser Technologie. Die Plattformbetreiber und Gaminghersteller nutzten Mechanismen, die Abhängigkeiten schufen wie etwa zufällige Belohnungen und endloses Scrolling. Das ist wie ein Casino.“ (Bikic, zit n. Staib, 2024)
Diese Erkenntnis führt mittlerweile weltweit zum Verbot von privaten digitalen Endgeräten in Schulen und benennt die Notwendigkeit klarer gesetzlicher Regelungen, inklusive einer verlässlichen Altersverifizierung:
„Im Vereinigten Königreich liegt das Schutzalter bei 16 Jahren, ein Kind darf erst mit 17 Jahren Auto fahren und in England erst mit 18 Jahren wählen. Wir haben keine Beweise dafür gehört, dass 13 Jahre ein angemessenes Alter für Kinder ist, um zu verstehen, was es bedeutet, wenn Plattformen Zugang zu ihren persönlichen Daten im Internet haben. Wir wissen jedoch, dass selbst das digitale Schutzalter, das derzeit formell auf dem niedrigstmöglichen Niveau festgelegt ist, weitgehend ignoriert und nicht wirksam durchgesetzt wird.“ (HoC 2024)
Schutzalter hochsetzen
Darum fordert der Bericht, dass die nächste Regierung das Zugangsalter auf 16 Jahre als digitales Schutzalter hoch setzen sollte und fordert von den Anbietern zuverlässige Maßnahmen zur Altersverifizierung: So heißt es im Bericht: „Es ist klar, dass Kinder Online-Schäden ausgesetzt sind, wenn sie Smartphones für den Zugang zum Internet und insbesondere zu sozialen Medienplattformen nutzen. Wir unterstützen die Forderung nach strengeren Kontrollen beim Verkauf von Smartphones an Kinder unter 16 Jahren, um sie vor Schaden zu schützen.“ und „Die von der Regierung getroffenen Entscheidungen über die Höhe des digitalen Schutzalters müssen wirksam durchgesetzt werden.“
Empfehlungen für Schulen
Dazu kommen konkrete Empfehlungen für Schulen:
- Strenge Handyverbote in Schulen, auch in Pausenzeiten samt Kontrolle zur Durchsetzung des Verbots, um das Wohlbefinden und die Bildungsergebnisse der Schüler zu verbessern. Das könne zunächst und probeweise nicht gesetzlich, sondern als Verordnung der Schule fixiert sein, sollte aber bei Bedarf später gesetzlich geregelt werden.
- Anleitung und Hilfestellung für die Eltern bei der Reglementierung/Reduzierung der Bildschirmzeit ihrer Kinder durch entsprechende Empfehlungen und Leitfäden. Dazu gehört auch die Überarbeitung von Ratschlägen für Eltern von kleinen Kindern, um die persönliche Interaktion zu betonen und vor Risiken von Bildschirmzeit für Kleinkinder zu warnen.
- Stärkere Bemühungen der Regierung, Kinder vor Sucht, Online-Schäden und Auswirkungen der Gerätenutzung auf die psychische Gesundheit zu schützen mit entsprechenden Altersvorgaben zur Nutzung, Kontrolle der Zugänge durch die Anbieter und Verbot suchtfördernder Techniken bei Apps für Kinder.
- Entwicklung von Leitlinien zum pädagogischen Wert von Websites und Apps und Zusammenarbeit mit Technologieunternehmen bei der Ausarbeitung von Bildungsstandards sowie Schulungen und Unterstützung für Lehrkräfte in den Bereichen digitale Kompetenz und Online-Sicherheit.
Der internationale Kontext
Die sehr deutliche Kritik der britischen Bildungskommission an den negativen Folgen von Bildschirmgeräten und Onlinemedien ist höchst bemerkenswert. Die Branche der „Educational Technologies“ (EdTech) in England ist die größte in Europa und eines der größten Segmente der weltweit agierenden Global Education Industries (GEO). Der englischsprachige Raum für digitale Angebote ist mit Großbritannien, Australien, den USA und Teilen Kanadas der weltweit größte Markt. Englisch ist die lingua franca der (kommerziellen) Bildungseinrichtungen und internationalen Wissenschaft. In England setzen immer mehr Schulen Edtech und KI-Tools ein als je zuvor und es ist durchaus beeindruckend, wie gleichlautend IT-Lobbyisten Eltern- und Lehrerverbänden bisher die digitale Transformation als Zukunftstechnologie anpreisen, und wie wenig Substanz diese Technikeuphorie in der Praxis hat. So heißt es im Bericht zur Anleitung zum Online-Lehren:
„In den führenden App-Stores wie dem Apple App Store und Google Play gibt es mehr als eine halbe Million Apps, die sich als pädagogisch wertvoll ausgeben, aber es gibt keine Qualitätsstandards für pädagogische Inhalte oder Designmerkmale, die Apps erfüllen müssen, um in die Kategorie „Bildung“ aufgenommen zu werden.“ (HoC 2024)
Die Kommission fordert daher, verbindliche Standards und Belege für die Kennzeichnungen angeblich lernförderlicher Apps einzuführen und alle Apps zu entfernen, die keinen pädagogischen Nutzen böten. Auch sei die positive Beurteilung von IT und KI im Unterricht zu relativieren.
„Obwohl Edtech einige Vorteile hat, sind wir besorgt über die Auswirkungen von Edtech und KI auf die Daten und die Privatsphäre von Kindern. Der Online Safety Act 2023 ist in Schulen ausgenommen, KI ist nicht reguliert und digitale Technologien können riesige Mengen an Daten von ihren Nutzern sammeln. (Absatz 130) (…). Die nächste Regierung sollte so bald wie möglich eine Risikobewertung über den Einsatz von E-Technologien und KI in Schulen erstellen, insbesondere darüber, inwieweit sie ein Risiko für die Sicherheit der Daten von Kindern darstellen.“ (Absatz 131)
In den Empfehlungen heißt es (Auszug, die Absätze bezeichnen den Haupttext):
- Wir sind äußerst besorgt über das Ausmaß an schädlichen Inhalten, denen Kinder und Jugendliche online ausgesetzt sein können und wie sich dies auf ihre psychische Gesundheit und die schulischen Leistungen auswirken kann (Absatz 25).
- Das überwältigende Gewicht der uns vorgelegten Beweise deutet darauf hin, dass die Schäden der Bildschirmzeit und der Nutzung sozialer Medien den Nutzen für kleine Kinder deutlich überwiegen (Absatz 26).
- Für Kinder und Jugendliche ist die rasche Zunahme der Nutzung von Bildschirmen und Geräten mit erheblichen Kosten verbunden, und die Regierung muss ressortübergreifend mehr tun, um sie vor Sucht, Online-Schäden und den Auswirkungen der extensiven Nutzung von Geräten auf die psychische Gesundheit zu schützen (Absatz 27).
Als Leitfaden für Mobiltelefone in Schulen wird formuliert:
- Wir begrüßen nachdrücklich die Entscheidung der Regierung, ein strengeres Verbot von Mobiltelefonen in Schulen in England einzuführen. Wir begrüßen die Tatsache, dass dieses Verbot auch die Pausenzeiten einschließt (…) Es ist klar, dass sich ein Verbot positiv auf die psychische Gesundheit und die schulischen Leistungen der Kinder auswirken kann. (Absatz 41).
UNESCO-Bericht „2023 Global Education Monitor“
Diese Aussagen wiederum korrespondieren mit internationalen Publikationen wie dem UNESCO-Bericht „2023 Global Education Monitor“. Der Untertitel „Technologie in der Bildung: Ein Werkzeug zu wessen Nutzen?“ verdeutlicht die Fragestellung. Das Ergebnis: Bei den aktuellen IT-Konzepten für Bildungseinrichtungen stehen nicht das Lernen und der pädagogische Nutzen im Mittelpunkt, sondern wirtschaftliche Interessen der IT-Anbieter und Aspekte der Datenökonomie. (https://die-pädagogische-wende.de/unesco-bericht-zu-it-in-schulen-fordert-mehr-bildungsgerechtigkeit/ )
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt der sozialdemokratische Minister für Kinder und Bildung Dänemarks, Mattias Tesfaye, der sich im Dezember 2023 dafür entschuldigt hat, dass die dänische Regierung Jugendliche zu „Versuchskaninchen in einem digitalen Experiment“ gemacht habe, dessen Ausmaß und Folgen nicht zu überblicken seien. Zu lange habe man sich den großen Tech-Konzernen unterworfen und sei als Gesellschaft zu „verliebt“ gewesen in die „Wunder der Digitalwelt.“ Jetzt müsse man zum Schutz der Kinder und Jugendlichen dringend umsteuern, damit wieder regulär unterrichtet werden könne und konzentriertes Arbeiten in Klassen wieder möglich werde. Die dänische Agentur für Bildung und Qualität hat dazu Empfehlungen zum Einsatz von Bildschirmen in Grundschulen und außerschulischen Programmen entwickelt.
Empfehlungen der STUK (dänische Agentur für Bildung und Qualität )
Die STUK (dänischen Agentur für Bildung und Qualität ) empfiehlt den Schulen, das Risiko zu verringern, dass Schüler während der Schulzeit durch Mobiltelefone und andere Bildschirme abgelenkt werden. Darüber hinaus empfiehlt die Agentur, dass sich die Schulen bewusst werden, wann es fachlich sinnvoll ist, digitale Lehrmittel einzusetzen, und dass sie Raum für analoges Lernen lassen.
„Hier sind die Empfehlungen des Ministeriums an die Schulen. Legt eure Handys weg. Sperrt den Zugang zu Websites mit Spielen, Streaming und TikTok. Steckt euren Computer in eure Tasche, wenn ihr ihn nicht braucht. Die Schule sollte nicht eine Erweiterung des Jugendzimmers sein. Holt euch das Klassenzimmer zurück. Das ist die Botschaft. Ich bin sehr froh, dass wir jetzt die Empfehlungen verschicken können. Ich hoffe, dass sie eine gute Bildschirmstrategie in allen dänischen Schulen unterstützen können“, sagt der Minister für Kinder und Bildung Mattias Tesfaye. (https://die-pädagogische-wende.de/empfehlungen-zur-bildschirmnutzung-fuer-grundschulen-und-ausserschulische-programme/ )
Stellungnahme des schwedischen Karolinska Instituts
Die schwedische Regierung machte ihre Entscheidung, Vorschulen verpflichtend mit digitalen Geräten auszustatten, rückgängig, lässt wieder Schulbücher drucken und mit Papier und Stiften statt Tablets arbeiten. Die Rückbesinnung auf das Arbeiten und Lernen mit klassischen Medien fußt auf der Stellungnahme des Karolinska Instituts, das folgende Probleme benennt:
- „Die Annahme, dass die Digitalisierung die von der schwedischen Bildungsbehörde erwarteten positiven Effekte haben wird, ist nicht evidenzbasiert, d.h. nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhend. Wir fordern quantitative Studien, die die Auswirkungen der verschiedenen Maßnahmen auf den Wissenserwerb und die digitale Kompetenz messen.“
- „Die Nationale Bildungsagentur scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat.“
- „Der Vorschlag der schwedischen Bildungsbehörde enthält keine konkreten Vorschläge, wie die Schulen bei der Umsetzung der Digitalisierungsstrategie vorgehen sollen, obwohl der Behörde sehr wohl bewusst sein muss, dass viele Schulen (insbesondere in benachteiligten Gebieten) große Schwierigkeiten haben, qualifizierte Lehrkräfte zu finden, und dass nur sehr wenige Lehrkräfte im Umgang mit digitalen Werkzeugen geschult wurden.“
Vergleichbare Studien und Kritik lassen sich aus immer mehr Ländern weltweit zusammentragen (https://die-pädagogische-wende.de/wieder-konzentriert-unterrichten-und-lernen-koennen/ ). Die Digitaleuphorie für Bildungseinrichtungen erweist sich als wirtschafts- und interessegetrieben, statt pädagogisch begründet. Frankreich geht sogar noch einen Schritt weiter, verbietet kommerziell Social Media-Angebote für alle Jugendlichen unter 18 Jahren und verpflichtet die Anbieter, verbindliche und nachprüfbare Alterskontrollen einzuführen.
Deutschland hinkt hinterher
Und Deutschland? In Baden-Württemberg werden die Kitas, in Bayern die Schulen mit Tablets geflutet. Auf den Hinweis, dass die digitalaffinen Nachbarländer die Konzepte der Frühdigitalisierung allesamt korrigieren, antwortet das Jugendamt Stuttgart mit dem erstaunlichen Satz: „In einem anderen Kontext mögen diese wissenschaftlichen Ansätze durchaus ihre Berechtigung finden, allerdings nicht im Zusammenhang mit dem Einsatz von Medien innerhalb unserer Einrichtungen.“
Diese Erkenntnisverweigerung ist geradezu typisch für die selektive Rezeption wissenschaftlicher Studien in Deutschland und die Dominanz wirtschaftlicher Interessen anstatt des Kindeswohls Es zeigt, dass Deutschland nicht nur der (in Teilen sinnvollen) Digitalisierung hinterherhinkt, sondern auch in der Diskussion über die Folgen der Nutzung von Bildschirmmedien für Kinder und Jugendliche wissentlich die Augen verschließt. Unsere Nachbarn korrigieren die Fehler ihrer Digitalstrategien für Kinder und Jugendliche. Wir machen die Fehler selbst noch einmal …
Quellen und PDF:
Der vollständige Bericht (englisch)
HoC (2024) House of Commons Education Committee: Screen time: impacts on education and wellbeing. Fourth Report of Session 2023–24. Report, together with formal minutes relating to the report. Ordered by the House of Commons to be printed 23 May 2024,
Letzter Abruf: 26.8.2024:
PDF: https://committees.parliament.uk/publications/45128/documents/223543/default/
Analyse und Kommentar (Ralf Lankau, 7 Seiten)
Übersetzung der Zusammenfassung und der 32 Forderungen (11 Seiten)
Kurzfassung der Forderungen (3 Seiten)
Stellungnahme SEND (Fokus auf sonderpädagogische Förderung und Behinderung, 2 Seiten)
Staib, Juilian (2024) Schädliche Folgen : Dänemark will die Kinder vor Tiktok retten, FAZ vom 21.7.2024
Siehe ergänzend: Böttger, Tobias; Zierer, Klaus: To Ban or Not to Ban? A Rapid Review on the Impact of Smartphone Bans in Schools on Social Well-Being and Academic Performance. In: Educ. Sci. 2024, 14(8). https://doi.org/10.3390/educsci14080906