Haltung und Werte von Lehrkräften zur Disposition gestellt

Zum staatlichen Bildungsauftrag von Schulen

Von Burkard Chwalek

Lehrkräfte üben ihre Tätigkeit mit hoheitlichen Befugnissen als Aufgabe des Staates aus. Die Erfüllung des staatlichen Bildungsauftrages erlegt ihnen einerseits eine Reihe von (Gehorsams-)Pflichten auf, andererseits leitet sich gerade aus ihm auch deren pädagogische Freiheit ab. Insofern nämlich das übergeordnete Ziel dieses Auftrages die mündige Bürgerin, der mündige Bürger sind und Mündigkeit nur als Ergebnis eines von Personen vollzogenen Bildungsprozesses zu verstehen ist, bedarf die Lehrkraft dieses garantierten Raumes eigenverantwortlichen, unterrichtlichen Handelns. Dieser schützt sie zugleich vor nicht legitimierter Einflussnahme sowohl des Staates wie auch von außen (1).

Die eingeräumte Selbständigkeit pädagogischen Tuns ist freilich den Grundwerten und Normen unseres demokratisch legitimierten Gemeinwesens verpflichtet (und dadurch begrenzt), die im Grundgesetz, den Landesverfassungen und für den Bereich der Schule zusätzlich in den Schulgesetzen der Länder formuliert sind. Unterschiedlich akzentuiert besteht im Grundsätzlichen Konsens: die Würde des Menschen, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, Demokratie, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Toleranz, Respekt, Gewaltfreiheit, Solidarität, fairer Interessensausgleich etwa – all das bildet den unverrückbaren Rahmen, innerhalb dessen sich Unterricht vollzieht. Die pädagogische Freiheit in gewissem Umfang einschränkend treten hinzu die Sicherstellung der Qualität des Schulwesens insgesamt, fachliche Ansprüche, die nicht unterschritten werden dürfen, die Weisungsgebundenheit der Lehrkräfte sowie die Verpflichtung zur Einhaltung gemeinsamer Konferenzbeschlüsse und dgl.

Gefährdung dieses Auftrages

Dem Zugriff entzogen ist, was darüber hinausgeht. Diese Selbstverständlichkeit sieht man durch mehrere Entwicklungen zunehmend in Frage gestellt. Die Kompetenzierung von Unterricht intendiert gerade nicht die Befähigung zur Selbstbestimmung der Lernenden: das genuine Ziel von Schule und Unterricht, das nicht die Ausbildung und Akkumulation disparater Teilkompetenzen, sondern Bildung zur Voraussetzung hat, verstanden als kritisch-reflexiv erworbenes Selbst-, Fremd- und Weltverhalten, das um seine eigenen Urteilskriterien weiß und sich deren vergewissert. Kompetenzierung zielt vielmehr auf Modellierung der Schülerinnen und Schüler nach dem eindimensionalen Menschenbild des homo oeconomicus und dementsprechend ist eine ihrer wesentlichen Kategorien die der Anpassung. Damit verbunden ist die forcierte Implementierung von Steuerungsinstrumenten wie standardisierte (und automatisierte) Massentests und Vergleichsstudien. Diese lassen sich nur computergestützt realisieren, was wiederum der vorangetriebenen (Online-)Digitalisierung in die Hände spielt und damit die Orientierung am informatischen Paradigma, am Computational Thinking vorantreibt (dazu u.). Zudem drängen in größerem Umfang private Anbieter in das als Markt entdeckte und aus dieser Sicht zu erschließende Schul- und Bildungswesen.

Nun werden Lehr- und Lernmittel traditionell den Schulen, Lehrenden und Lernenden durch eine Kooperation staatlicher Stellen und der Privatwirtschaft, der Schulbuchverlage zur Verfügung gestellt und insofern handelt es sich nicht um eine neue Entwicklung. Allerdings unterliegen die so erstellten Materialien staatlicher Kontrolle.

Die Grenze des Zulässigen dürfte überschritten sein, wenn private Akteure auf dem Bildungsmarkt es unternehmen, selbst verändernd in den staatlicher Kontrolle unterliegenden Bildungsauftrag eingreifen zu wollen. So liest man auf der Website des Start up Scobees im „Praxisleitfaden Transformations- Prozess“ (spatium im Original):

„Um eine alternative Lernkultur an einer Schule umzusetzen, müssen wir sowohl Schülerinnen und Schüler auf ein selbständiges Lernen vorbereiten, als auch die Haltung und Werte der Lehrkräfte ändern“ (https://scobees.com/leitfaden/, Abruf: 20.10.2021; Komma nach „vorbereiten“ im Original ebenso wie der fehlende Punkt am Satzende).

Eine notwendige Antwort

Scobees ist laut Website ein EdTech-Unternehmen, ein Start up, das ein Produkt aus der Kategorie „Lernmanagementsysteme“ anbietet: „Das digitale Tool SCOBEES für zeitgemäße Lernkultur“ (https://scobees.com/; Abruf: 20.10.2021). Selbstverständlich können auch auf dem Bildungssektor im zulässigen Rahmen private Akteure ihre Interessen verfolgen. Der unverhohlen formulierte Anspruch jedoch, Einfluss auf „die Haltung und Werte der Lehrkräfte“ im Sinne einer Transformation zu nehmen, dürfte schon an sich mit dem demokratisch legitimierten Bildungsauftrag unserer Schulen nicht in Einklang zu bringen sein. Lehrkräfte sind durch den oben skizzierten Rechtsrahmen auf die darin verankerten Werte und Normen verpflichtet und es darf mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass diese die Grundlage ihrer konkreten Erziehungs- und Unterrichtsarbeit sind. Andernfalls dürften sie ihren Dienst gar nicht ausüben. In transformierender Absicht auf diese Werte und Normen zugreifen zu wollen, sollte staatlicherseits eigentlich eine Gegenreaktion erwarten lassen.

Unabhängig davon, ob ähnlich offensiv Haltungen und Werte von Lehrkräften adressiert werden, sollte die mit der um sich greifenden Einführung von Lernmanagementsystemen einhergehende Verschiebung der Pädagogik ins Informatische Gegenstand kritischer Reflexion werden, mehr noch: Lernmanagementsysteme selbst sollten als Gegenstand von Unterrichtsarbeit etabliert werden (2). Ohne dies hier im Einzelnen auszuführen (3), ist doch evident, dass von der Übernahme auf dem Computational Thinking basierender digitaler Systeme zugleich der pädagogische Handlungsspielraum durch die vorgelagerten informatischen Architekturen mitbetroffen ist und eingeengt wird. Die mit der (Online-)Digitalisierung verheißene Befähigung zur Eigenständigkeit, zur Selbstorganisation, zur Selbstbestimmung usw. wird also gerade nicht bereits aus der Einführung und Anwendung digitaler Technik und der Steuerung der Lernprozesse durch diese resultieren, sondern setzt umgekehrt die Kenntnis und Analyse der informatischen Strukturen und ihrer Logiken voraus, die erst zum selbstbestimmten und souverän verfügenden Umgang mit den digitalen Medien befähigen. Will Schule ihrem Bildungsauftrag in einer immer digitaler bestimmten Welt gerecht werden, ist dies eine zentrale und bleibende Aufgabe, die es indes vielfach wohl erst noch als solche zu erkennen gilt.

Anmerkungen und Quellen

1) Zur pädagogischen Freiheit vgl. Kunze, Axel Bernd: Beziehung, Präsenz, Kommunikation. Bildungstheoretische und bildungsethische Überlegungen zur digitalen Unterrichtsentwicklung, in: Lankau, Ralf (Hrsg.): Autonom und mündig am Touchscreen. Für eine konstruktive Medienarbeit in der Schule, Weinheim und Basel 2021,65 – 72, bes. 59 – 62.

2) Vgl. hierzu das wichtige Buch von Simanowski, Roberto: Stumme Medien. Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft. Berlin 2018 sowie Krautz, Jochen: Worum es geht – und worum nicht. Digitalisierung als Gegenstand und Medium von Unterricht statt „digitale Transformation von Schule“, in: Lankau, Ralf (Hrsg.): Autonom und mündig am Touchscreen. Für eine konstruktive Medienarbeit in der Schule, Weinheim und Basel 2021, 153 – 167.

3) Zu den hier folgenden Aspekten einige Literaturhinweise: