Buch: Über das Miteinander in der Schule

Beat Kissling: InklusionBeat Kissling gelingt eine sowohl historisch vergleichende wie disziplin- und fachübergreifende Analyse der Debatte über Integration und Inklusion im Schulsystem und gibt Impulse für alle Schularten.

„Sind Inklusion, Integration in der Schule gescheitert?“ fragt der Schweizer Erziehungswissenschaftler, Lehrer und Psychotherapeut Beat Kissling in seinem neuen Buch und wählt dabei einen Weg, der dieses Sachbuch zu einem besonderen Lesevergnügen macht. Kissling lässt ehemalige Schülerinnen und Schüler ebenso zu Wort kommen wie Eltern und Lehrkräfte. Dabei gelingt durch den Wechsel von Erfahrungsberichten, theoretischen und praxisnahen Kapiteln das Für und Wider von Integration und Inklusion multiperspektivisch aufzublättern. Im Mittelpunkt steht dabei immer das Individuum als Teil der bindungs- und beziehungsreichen Gemeinschaft mit Lehrkräften und Klassengemeinschaft.

Im ersten Kapitel beschreibt Kissling an fünf facettenreichen Beispielen die Spannbreite der möglichen Situationen und Aufgaben von Integration und Inklusion. Dabei wird gleich zu Anfang deutlich, dass die Akzeptanz der Individualität und Vielfalt von Menschen auf der einen, das konkrete situative Miteinander auf der anderen Seite über des Ge- oder auch Misslingen jeder pädagogischen Arbeit entscheidet. Ziel von Pädagogik ist weder Metrik noch Statistik, nicht das Rastern nach Kompetenzstufen oder Vermessen von Lernleistung, sondern das Werden des Subjekts als Individuum.

Das zweite Kapitel vermittelt einen präzisen, gleichwohl kurzweiligen Exkurs über die Entstehung, Parallelen und Unterscheide des spezialisierten Sonderschulwesens in Deutschland und der Schweiz und unterschlägt weder die Kontroversen noch die zugehörigen Polemiken. Kissling benennt sowohl die (z.T. verdeckten) Ambitionen einiger Akteure wie den erstaunlich großen Interpretations- und Handlungsspielraum der UN-Konvention. Das Kapitel schließt mit Biografien ehemaliger Sonderschüler und einem Exkurs über Ursachen und das Verhindern von Mobbing.

So gerüstet befasst sich das dritte Kapitel mit anthropologischen Konstanten des menschlichen Lernens. Hier erweitert Kissling das Thema Lernen auf alle Schulformen und Lebensalter aus. Kinder mit besonderem Förderbedarf brauchen zwar mitunter andere Rahmenbedingungen, das Lernbedürfnis aber ist allen Kindern gleich. Entscheidend sind für alle Bindung und Vertrauen zur Lehrkraft, der Klassenzusammenhalt und die sich daraus entwickelnde positive Einstellung zum Lernen.

Hier öffnet Kissling den Theorie-Diskurs und zitiert neben dem bekannten amerikanischen Psychologen Michael Tomasello den noch weniger bekannten russischen Psychologen Lew Vygotsky. Seine Position der Ontogenese des Kindes als gemeinsames Werk (Ko-Konstruktion) von Kindern mit ihren Eltern, Lehrkräften und anderen Erwachsenen spornt zum Nachdenken an. Folgt man der Argumentation von Vygotsky, wird man
die pädagogischen Prämissen des selbstorganisierten Lernens ebenso in Frage stellen wie die soziale Isolation an Lernstationen wie Avatare als Lernbegleiter. Man erkennt zugleich die Absurdität mancher Diskurse: Instruktion durch Lehrkräfte ist verpönt. Das Ergebnis: Schülerinnen und Schüler schauen„How-to“-Videos im Netz, weil Vorbild und Anleitung fehlen.

Im vierten Kapitel schließt sich der argumentative Kreis. Beispiele aus Literatur und Film zeigen am Werdegang von Kindern, wie wichtig die Persönlichkeit von und die Beziehung zu Lehrkräften ist. Folgerichtig schließt sich das „Dialogische Lernen“, Formen des gemeinsamen Lernens durch einen strukturierten Dialog. Wer dabei die sokratische Methode assoziiert, ist auf einem guten Weg. Die Schlussfolgerungen im letzten Kapitel sind als Thesen formuliert. Kissling ist auch hier ganz Pädagoge und traut den Leserinnen und Lesern zu, durch eigenes Nachdenken ihre Position zu finden.

Dieses Buch sei daher allen angehenden wie praktizierenden Lehrkräften nicht nur der Sonder- und Heilpädagogik empfohlen. Es hinterfragt konstruktiv und praxisnah das eigene Tun als Pädagogin oder Pädagoge und bezieht klar Position, ohne normativ zu sein.

Link zum Verlag: Beat Kissling: Chancengleichheit in der Bildung (Hogrefe)
Sind Inklusion und Integration in der Schule gescheitert? Eine kritische Auseinandersetzung, Text zuerst erschienen in: Pädagogik (Beltz) Heft 5/2022