Koalitionsvertrag: Ursachen der Bildungskatastrophe werden zu Lösungen gemacht

Das Bündnis für humane Bildung fordert Maßnahmen gegen die Bildungskatastrophe

Der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD ist unterschrieben. Wer Schlussfolgerungen für einen Ausweg aus der deutschen Bildungskatastrophe erwartet, wird enttäuscht. Das Ausmaß des fortschreitenden Bildungsdesasters kann nicht mehr geleugnet werden, die Ursachen sind durch Studien nachgewiesen. Doch der Koalitionsvertrag vollbringt ein diskursives Wunder: Ursachen der Bildungsmisere werden in Lösungen umgewandelt. Noch mehr Digitalisierung soll aus der Katastrophe führen, statt bekannte pädagogische Lösungen zu präferieren.

Von Prof. Dr. Ralf Lankau und Peter Hensinger M.A., Sprecher Bündnis für humane Bildung

Der Koalitionsvertrag spricht Mängel an, vermeidet es aber, das ganze Ausmaß der Bildungskatastrophe zu benennen:

„Wir wollen die Zahl der Grundschulkinder, die die Mindeststandards im Lesen, Schreiben und Rechnen verfehlen, sowie die Zahl der Jugendlichen ohne Abschluss deutlich reduzieren. Hierfür wollen wir unter anderem das Startchancen-Programm bürokratiearm weiterentwickeln, es auf weitere Schulen ausweiten und gewonnene Erfahrungen für das gesamte Schulsystem, auch für die multiprofessionelle Zusammenarbeit nutzen.“(S.72)

Die pädagogische Wissenschaft hat genügend Analysen vorgelegt, auf welche Faktoren dieser Leistungsabfall zurückzuführen ist. Es ist nicht nur der Lehrermangel, der im Koalitionsvertrag gar nicht angesprochen wird, sondern es sind vor allem falsche pädagogische und schulpolitische Konzeptionen. Die Bildungspolitik folgte den neoliberalen Planungen von OECD, PISA und McKinsey, deren Vorgaben sich in den Bildungsreformen und den Digitalpakten niederschlugen (Münch 2009, 2025). Sie planten seit den 70er-Jahren die Ökonomisierung der Bildung, ihre Vermessbarkeit zum Output von Humankapital (Krautz 2007, Kraus 2017, Münch 2009, 2018, 2024). Ihre Planungen wurden von Bertelsmann in Deutschland forciert (Dräger 2015, Kraus 2017, Burchardt 2012). Von der kritischen Erziehungswissenschaft wurde von Anfang an diese neoliberale Bildungspolitik abgelehnt.

Engartner: Employability statt Mündigkeit und Reflexion

Tim Engartner: raus aus der BildunfgsfalleDer Sozialwissenschaftler Prof. Tim Engartner beschreibt in seinem Buch „Raus aus der Bildungsfalle“ (2024) den Irrweg und Ausweg:“So dominiert in Bildungspolitik und Administration derzeit ein Verständnis von Bildung, das auf ökonomische Verwertbarkeit ausgerichtet ist und damit einen warenförmigen Charakter annimmt. Bildungseinrichtungen sollen das liefern, was der Arbeitmarkt verlangt: Employability statt Mündigkeit und Reflexion lautet das Credo.“ (S.34).

Dem setzt Engartner die Aufgabe von Schule entgegen:

„Aber herrscht nicht Einigkeit, dass Bildung es Lernenden ermöglichen soll herauszufinden, was in ihnen steckt, und zwar alles, – sprich eine ganze Welt, nicht nur die Berufswelt? Dieser bewährte Gedanke steht im Widerspruch zu den jüngeren Entwicklungen unseres Bildungssystems.“ (S.35)

Seit über 20 Jahren analysieren und kritisieren Experten die industriedominierte BildungspolitikBildcover: Verlage

Kein Mensch lernt digital

Die falsche Konzeption fand in der „Digitalen Bildung“ ihren Höhepunkt. Alle Studien ergaben, zuletzt der UNESCO – Bildungsreport 2023, dass sich kein positiver Effekt durch die Digitalisierung auf die fachlichen Lernleistungen feststellen lässt, sondern lernhinderliche Auswirkungen. Deswegen korrigieren viele Länder diesen Weg. Der Koalitionsvertrag deutet zwar die Problematik an:

„Die Auswirkungen von Bildschirmzeit und Social Media-Nutzung bewerten wir schnellstmöglich wissenschaftlich und erarbeiten ein Maßnahmenpaket zur Stärkung von Gesundheits- und Jugendmedienschutz.“ (S. 72/72)

Diese wissenschaftlichen Aufarbeitungen liegen längst vor, angefangen von Manfred Spitzers Buch „Die digitale Demenz“ (2014) bis zu den aktuellen Gutachten z.B. für die französische, schwedische, spanische und britische Regierung, oder die neuen Publikationen von Lesch / Zierer (2024), Münch (2025), Engartner (2024).

Aus ihnen hätten bereits klare Konsequenzen gezogen werden können. Während man sich auf dem Feld der Wirtschaft im Koalitionsvertrag selbstverständlich an aktuellen Eingaben der Industrieverbände orientiert, wird hier offensichtlich vertröstet. Um dann aber mit einem Salto-Mortale am alten Irrweg mit noch mehr Digitalisierung festzuhalten und bereits vor (!) der angekündigten wissenschaftliche Aufarbeitung Lösungen festzuschreiben:

„DigitalPakt 2.0. Mit dem neuen DigitalPakt bauen wir die digitale Infrastruktur und verlässliche Administration aus. Wir bringen anwendungsorientierte Lehrkräftebildung, digitalisierungsbezogene Schul- und Unterrichtsentwicklung, selbst-adaptive, KI-gestützte Lernsysteme sowie digitalgestützte Vertretungskonzepte voran. Den Abrechnungszeitraum für angefangene länderübergreifende Maßnahmen verlängern wir um zwei Jahre. Bedürftige Kinder statten wir verlässlich mit Endgeräten aus. (S.72)“

„Unter Achtung der jeweiligen Zuständigkeiten wollen wir gemeinsam mit den Ländern für die nächste Dekade relevante und messbare Bildungsziele vereinbaren und eine datengestützte Schulentwicklung und das Bildungsverlaufsregister schaffen. Die Einführung einer zwischen den Ländern kompatiblen, datenschutzkonformen Schüler-ID unterstützen wir und ermöglichen die Verknüpfung mit der Bürger-ID. (S.72)“

Vom gläsernen Schüler zum gläsernen Bürger

Ein Schüler ohne Tablet und ohne ID in der Cloud wäre in dieses von Algorithmen gesteuerte Lernkonzept nicht integrierbar. Deshalb entdeckt man nun das „bedürftige Kind“. Hinter den Formulierungen „Digitalisierungsbezogene Schul- und Unterrichtsentwicklung, selbst-adaptive, KI-gestützte Lernsysteme“, versteckt sich das autonome Lernen am Bildschirm, gesteuert durch einen Avatar, so wie es SAP (Meinel 2017) und Bertelsmann (Dräger/Eiselt 2015) schon lange vorschlagen. Dafür soll eine Schüler-ID angelegt werden, ein Bildungsverlaufsregister mit einem Avatar für den gläsernen Schüler. Dies ermöglicht dann mit „digitalgestützten Vertretungskonzepten“ die Einsparung von Lehrern, so wie es Bertelsmann vor 10 Jahren als Zukunft der Schule vorschlug:

»Jeden Tag sammeln wir tausende von Datenpunkten von jedem Schüler … Diese Daten werden analysiert und zur Optimierung der persönlichen Lernwege genutzt. Komplexe Algorith­men schnüren individuelle Lernpakete für jeden einzelnen Schüler, deren Inhalt und Tempo sich fortlaufend anpassen, bei Bedarf im Minutentakt. (…) Schon heute berechnet Knewton (eine Software, d. Verf.) zuverlässig die Wahrscheinlichkeit richtiger und falscher Antworten sowie die Note, die ein Schüler am Ende eines Kurses erreichen wird. Eines Tages braucht es wohl keine Prüfungen mehr – der Computer weiß bereits, welches Ergebnis herauskommen wird“ (Dräger 2015:24).

Man muss hinzufügen: auch keinen Lehrer mehr, höchstens einen Lerncoach. Denn in der Software ist bereits programmiert, welcher Schüler der Output sein soll. So wird mit Begeisterung in der Stuttgarter Zeitung über ChatGPT an einem Stuttgarter Gymnasium berichtet, das den Lehrer überflügle: „Die KI analysiert meine Stärken und Schwächen schneller und individueller“, berichtet eine Schülerin (StZ, 13.03.2025).

Schule wird so zum Geschäfts- und Indoktrinationsfeld der IT-Konzerne, deren Algorithmen, Datengier und Profitinteressen nun die Erziehungs- und Bewertungskriterien setzen (Münch 2025, Zuboff 2018). Es ist die Auflösung des sozialisierenden Klassenverbandes, individualisiert wird das Kind seinem Avatar in der Cloud ausgeliefert. So wird die Vermessung zum Output von Humankapital als neoliberales Konzept festgeschrieben werden. Und soll dies auch noch mit der Hard- und Software der US-IT-Konzerne stattfinden?

Statt umfassende Bildung – einseitige MINT-Orientierung

Ein Lehrplanvorschlag im Koalitionsvertrag ist verräterisch:

„MINT, Unternehmerbildung und BNE. Wir bauen die frühe MINT-Bildung sowie den Wettbewerb „Jugend forscht“ aus, unterstützen die Gründung von Schülerfirmen und „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE). (S.73)

Statt der Korrektur der einseitigen Orientierung an den MINT-Fächern für eine Ausrichtung auf die Wirtschaft, also Ausbildung statt Bildung, eine wesentliche Ursache der Bildungskatastrophe, wird diese MINT-Orientierung im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Experten fordern dagegen schon lange den Ausbau der für die Lern- und Intelligenzentwicklung zentralen Fächer Deutsch, Sport, Kunst und Musik.

Smartphone Verbote verbessern die Lernergebnisse und das Schulklima

Die Journalistin Annika Ross schreibt in der Zeitschrift EMMA:

„Lange war der Glaube: je digitalisierter, desto besser. Das ist Fortschritt, das ist die Zukunft. Deutsche Schulen mit staubigen Kreidetafeln wurden belächelt. Während der Pandemie wurden Kindern flächendeckend Handys und Tablets in die Hand gedrückt, damit sie bloß nicht abgehängt werden. Genau das aber scheint dadurch passiert zu sein. LehrerInnen beobachten eine Dauer-Müdigkeit und apathische Leere bei den Kindern. Das Leistungsniveau ist im Sinkflug. Seit der Pandemie tauchen regelmäßig Studien auf, die belegen, wie sehr die seelische und körperliche Gesundheit von Jugendlichen unter Social Media leidet. Jedes fünfte deutsche Kind leidet nachgewiesen unter psychischen Störungen.“ (EMMA, 5. März 2025)

Spätestens seit den von Jonathan Haidt in seinem Buch „Generation Angst“ publizierten pathologischen psycho-sozialen Auswirkungen der telefonbasierten Sozialisation müsste ein Umsteuern eingeleitet werden. Der Ordinarius für Schulpädagogik Prof. Klaus Zierer (2021) stellte schon 2021 als Ergebnis seiner Metastudie fest: „Je länger sich Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit mit ihren Smartphones beschäftigen und je mehr Zeit sie in sozialen Medien verbringen, desto geringer ist die schulische Lernleistung.“

Im Jahr 2024 wies Zierer mit einer weiteren Metastudie nach, dass Smartphoneverbote in Schulen sofort positive Wirkungen haben (Böttger 2024). Bestätigt wird dies durch eine repräsentative Studie in britischen Schulen (Mainsfield 2024). Sie ergab eine Verbesserung von 1-2 Noten, wenn Smartphones aus der Schule verbannt sind. Während international immer mehr Länder auf Grund dieser Studienergebnisse die Digitalisierung des Unterrichts rückgängig machen, hält die deutsche Politik unbeirrt an den Vorgaben der IT-Branche fest. Der Weg noch tiefer ins Digi-Tal wird gepflastert.

Die Initiatoren des Appells: Dr. Uwe Büsching, Dr. Mario Gerwig, Peter Hensinger MA, Prof. Ralf Lankau, Prof. Manfred Spitzer, Prof. Klaus Zierer (Bilder: privat).
Die Initiatoren des Appells: Dr. Uwe Büsching, Dr. Mario Gerwig, Peter Hensinger MA, Prof. Ralf Lankau, Prof. Manfred Spitzer, Prof. Klaus Zierer (Bilder: privat).

Alternative Bildungskonzepte liegen vor

Das Bündnis für humane Bildung hat am 12. März an die Verhandler des Koalitionsvertrages das Konzept „Humane und emanzipierende Bildungspolitik vs. digitale Transformation“ für einen Ausweg aus der Bildungskatastrophe eingereicht, unterzeichnet von 75 Experten. Offensichtlich findet die Wissenschaft im Koalitionsvertrag kein Gehör. Daher sei hier an unsere wichtigsten Forderungen erinnert:

  • Bildschirmfreie Grundbildung: Kitas, Kindergärten und Grundschulen bleiben in der pädagogischen Arbeit bildschirmfrei. Die negativen Erfahrungen mit Frühdigitalisierung in den skandinavischen Ländern, der fehlende Nutzen, das Ablenkungspotential und sogar negative Auswirkungen von digitalen Endgeräten im Unterricht für Lernprozesse, Aufmerksamkeit, Konzentration begründen den Einsatz analoger und manueller Medien und Techniken (Bücher, Schreiben auf Papier, Zeichnen). Der Digitalpakt Schule wird für Kita und Grundschule ausgesetzt.
  • Smartphone- und Social-Media-Regulierungen: An Kitas und Schulen wird ein bundesweites Verbot privater digitaler Endgeräte (v.a. Smartphones, Tablets, Wearables/Smartwatches) eingeführt. Die Mediennutzung im Unterricht in höheren Klassen wird altersabhängig beschränkt.
    Siehe dazu auch die Empfehlungen zu Bildschirmmedien für Kinder und Jugendliche von den ersten Lebensjahren bis zu Sekundarstufe II, 2024 veröffentlicht im Kinder- und Jugendarzt, dem Verbandsorgan des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Deutschlands.
  • Mehr Lehrkräfte statt mehr Technik: Notwendig sind für Kitas, Kindergärten und Schulen mehr Erzieher:innen und qualifizierte Lehrkräfte, Psycholog:innen, Schulsozialarbeiter:innen. Das analoge Spiel und Naturerfahrung, der Ausbau von Sport, handwerkliches Lernen, Musik und Theaterspielen müssen schon in der Grundschule im Lehrplan verankert werden.
  • Unabhängigkeit von Tech-Konzernen: Werden digitale Geräte im Unterricht gebraucht, werden ausschließlich von der Schule gestellte Geräte genutzt, der Zugang zu Webdiensten ist zu unterrichtsrelevanten Seiten („White List“) möglich. Nutzung von Open-Source-Software und Datenschutz-konformer IT in Schulen. Die IT-Branche darf keine Sitze in den Beratungsgremien der Bildungspolitik haben.

Wir fordern die neue Bundesbildungsministerin im Namen der UnterzeichnerInnen des Appells der 75 Experten auf, einen Richtungswechsel in der Bildungspolitik hin zu einer Erziehung zur Medienmündigkeit einzuleiten. Erste Maßnahmen sollten ein Stopp der Digitalisierung, die Annulierung des Digitalpaktes 2.0 und Smartphone- und Socialmedia-Verbote bis zum 16. Lebensjahr sein.

Mehr dazu auf: https://die-pädagogische-wende.de/aufruf-bildungspolitik-2025/

Literatur

  • Böttger B.; Zierer, Klaus (2024: To Ban or Not to Ban? A Rapid Review on the Impact of Smartphone Bans in Schools on Social Well-Being and Academic Performance, Educ. Sci. 2024, 14(8), 906; https://doi.org/10.3390/educsci14080906
  • Burchardt, Matthias (2012): Liebesgrüße aus Gütersloh, in: FROST/RIEGER-LADICH, S.65-77
  • Dräger, Jörg; Müller-Eiselt, Ralph (2015): Die digitale Bildungsrevolution: Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können, Gütersloh
  • Engartner, Tim (2024): Raus aus der Bildungsfalle. Westend
  • Haidt, Jonathan  (2024): Generation Angst, Rowohlt
  • Kraus, J (2017): Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt, München
  • Krautz, Jochen (2014): Ware Bildung. Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie, München
  • Mainsfield I, Phillips S, Web N (2024): The case for a Smartphone ban in Schools, https://policyexchange.org.uk/publication/disconnect/
  • Meinel, C (2017): Eine Vision für die Zukunft digitaler Bildung, Online: https://hochschulforumdigitalisierung.de/de/blog/christoph-meinel-hpi-visionzukunft-digitale-bildung
  • Münch, Richard (2009): Globale Eliten, lokale Autoritäten. Bildung und Wissenschaft unter dem Regime von PISA, McKinsey & Co, Suhrkamp
  • Münch, Richard (2018): Der bildungsindustrielle Komplex. Schule und Unterricht im Wettbewerbsstaat, Beltz Juventa, Weinheim
  • Münch, Richard: Wieczorek O (2025): Effektive Schulsteuerung? Bilanz einer globalen Reformagenda, Beltz
  • Zierer, Klaus (2021): Zwischen Dichtung und Wahrheit: Möglichkeiten und Grenzen von digitalen Medien im Bildungssystem, Pädagogische Rundschau, 75. jg, S.377-392, Download: www.diagnose-funk.org/2001
  • Zuboff, Shoshana (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, campus