Kritik – mehr denn je gefragt

Kompetent, flexibel, angepasst ins Leben

Veranstaltungsbesprechung als Gastbeitrag von Eva M. Wehrheim

Am 29.9.2022 trug Dr. Andreas Hellgermann unter dem Titel „kompetent.flexibel.angepasst“ in Frankfurt (6. Veranstaltung der AG „Gegen die Ökonomisierung der Bildung“ der GEW Frankfurt) seine Gedanken zur Kritik neoliberaler Bildung vor. Er bemängelte, der digitale Selbstunternehmer habe sich als europäisches Bildungsideal durchgesetzt. Dieser brauche keine Kritik; seine Vernunft, auf die auch künftig nicht verzichtet werden könne, sei aber pragmatisch und instrumentell. Hellgermann hält dies für einen fatalen Irrtum. Bildung verlange eine über das Instrumentelle hinausgehende Vernunft. Um die Krisen der Gegenwart und Zukunft bewältigen zu können, sei vielmehr eine kritische Vernunft unverzichtbar. Sie müsse auch und gerade in Zeiten wie diesen, die global alles oder zumindest vieles grundlegend auf den Kopf stellen, als Bildungsherausforderung begriffen werden (1).

Hellgermann beruft sich u. a. auf eine Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zu den Schlüsselkompetenzen für lebensbegleitendes Lernen, in denen die Fähigkeiten eines Individuums, seine Ideen, seine Kreativität, seine Risikobereitschaft, seine Planungsfähigkeiten, sein vorausschauendes Vorgehen, seine Motivation, seine ökonomischen Kompetenzen, seine Entschlossenheit, seine Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Stärken etc. der Bewältigung des täglichen Lebens nicht nur im privaten und gesellschaftlichen Umfeld, sondern zuvörderst auch der Gestaltung des Arbeitsumfeldes im unternehmerischen Sinne dienen (2).

Dem liegt ein ökonomischer Ansatz zugrunde, der Menschen als humanen Rohstoff auf ihren Erfolg am Arbeitsplatz für das jeweilige Unternehmen reduziert, sie auf diese Weise zu Humankapital degradiert und damit eines Großteils ihres Menschseins beraubt. Sie sollen kompetent sein, das heißt, Probleme jeder Art lösen können, immer bereit, sich selbst zu optimieren, und ihre Kompetenzen der Problemlösung stetig weiterentwickeln. Sie sollen flexibel sein, formbar, was nichts anderes meint, als sich jederzeit ohne Widerstand den jeweiligen (unternehmerischen) Bedürfnissen anzupassen. Und um, ohne aufzufallen, quasi unsichtbar ohne eigene Bedürfnisse auszuformen und ohne Probleme zu verursachen, möglichst erfolgreich durchs (Berufs)Leben zu kommen.

Flexibilität, an sich ein durchaus erstrebenswertes Ziel, das m. E. objektiv den toleranten und emanzipierten persönlichen Umgang mit veränderten Wirklichkeiten meint, einen Prozess, dem Problemlösung immanent ist, wird hier herabgewürdigt und heißt nichts anderes als Anpassung. Ein Widerspruch an sich. Das Prinzip der Anpassung wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Zu lebenslangem Lernen verdammt, zur Herrschaft über den Augenblick, um den Forderungen souverän zu entsprechen, die andere stellen, nicht unbedingt das Leben. Bei Paulo Freire heißt es in diesem Zusammenhang, die neoliberale pragmatische Einstellung sei „ … in aggressiver Weise darauf aus, einen Bruch zwischen einem selbst und seiner Welt zu bewirken, indem man eine tiefgehende Verbindung zwischen einem selbst und dem Markt geltend macht. In anderen Worten, der Fokus in der neoliberalen Welt ist darauf gerichtet, wie man ein kompetenter Verbraucher wird, wie man ein kompetenter Verteiler von Wissen wird, ohne irgendwelche ethischen Fragen zu stellen“ (3).

Die damit einhergehende Entkoppelung von der wirklichen Welt verläuft nicht ohne Selbstaufgabe. Kurse für Resilienz, Work-Life-Balance oder Self-Management sollen aus dem Ruder gelaufenen Arbeitnehmern ins System zurückhelfen. Sie machen glauben, das Versagen im System liege nicht am System, sondern am Betroffenen selbst, dem der Anpassungsprozess misslungen sei. Doppelte Schmach. Unterstützt wird dieser „kompetente Anpassungsprozess“ durch die neuen Technologien, mit Hilfe der Digitalisierung und der Computerindustrie also, die das Ziel verfolgen, das lebenslange Lernen fortwährend zu „optimieren“. Dies erzeugt einen völlig unnötigen und vor allem falsch verstandenen Leistungsdruck, der zur „Verschuldung“ des Einzelnen gegenüber dem Unternehmen führen kann. Der Mitarbeiter empfindet sich zunehmend als defizitär und damit nicht in der Lage, die an ihn gestellten Erwartungen zu erfüllen. So hetzt er, nicht mehr von außen, sondern von innen getrieben, seinen eigentlichen Fähigkeiten und Zielen immer hinterher, ohne jemals anzukommen, und hält sich dabei perfiderweise quasi selbst die Karotte vor die Nase.

Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht

Auch in die Schulen haben die o. g. Prinzipien und Technologien nicht erst seit gestern Eingang gefunden und bieten einen perfekten Nährboden für das Ziel der Anpassung. Selbst in Grundschulen, z. T. sogar im Kindergarten, sollen junge Menschen mit und an Computern lernen, mit eigens für sie erstellten Computerlernprogrammen. Und Schulen kaufen diese Programme. Die Lehrerschaft wurde damit zu Einkäufern (schlechter, aber teurer Ware, s. u.) gemacht. Um „wettbewerbsfähig“ zu bleiben und „vergleichbar“ zu werden. Um das Schulprogramm zu erweitern, den Entwicklungen anzupassen, auf diese Weise messbar, überprüfbar und auch als Druckmittel verwendbar zu machen.

Doch die Vergleichbarkeit trügt. Daran können auch um der Wettbewerbsfähigkeit willen ins Schulprogramm aufgenommene Projekte oder Maßnahmen wenig ändern. Das schulische Leben hängt von weiteren Faktoren ab, von den Mitgliedern des Kollegiums, das sich heute nicht nur multiprofessionell, sondern aufgrund des eklatanten Lehrermangels als Folge einer verfehlten Bildungspolitik auch aus weniger bis gar nicht pädagogisch ausgebildeten Seiteneinsteigern zusammensetzt (es soll bereits Schulen geben, an denen der Anteil der Seiteneinsteiger höher ist als der der ausgebildeten Lehrkräfte (4)), den Schülerinnen und Schülern, ihrer sozialen, nationalen, religiösen Herkunft, der Elternschaft, dem Einzugsgebiet, den räumlichen Möglichkeiten in Schulgebäude und Umgebung und nicht zuletzt auch von der Schulleitung. All dies spielt eine entscheidende Rolle in diesem Gefüge und darf nicht unberücksichtigt bleiben.

Durch die Anfang der 2000er Jahre von der OECD, Organisation for Economic Co-operation and Development, also weder von Seiten der Kultusministerkonferenz noch einer pädagogischen Wissenschaftseinrichtung beauftragten PISA-Tests, VERA und all den anderen Vergleichsgeschichten spätestens hat der neoliberale Bildungsgedanke ganz offiziell Einzug in unser Bildungssystem gehalten und begonnen, die staatliche Bildung zu digitalisieren, zu kontrollieren, zu instrumentalisieren und zu manipulieren. Gründe wären z. B. die schlechten Leistungen deutscher Schüler im internationalen Vergleich, aber eben auch die Globalisierung und damit die Konkurrenzfähigkeit Deutschlands auf dem internationalen Markt. Die gymnasiale Schulzeit wurde in diesem Zuge den europäischen Nachbarn angepasst und verkürzt, ohne die unterschiedlichen Bildungssysteme grundsätzlich miteinander zu vergleichen und Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Später wurde hier dann ein – wenn auch halbherziger – Rückzieher gemacht und Schulen konnten zu G9 zurückkehren.

Auch direkt und unmittelbar vor Ort zeigte sich Wirkung. Unterrichtszeit und Manpower wurden für die Durchführung der Tests und deren Auswertung zweckentfremdet und so missbraucht. Mit Folgen für die Kinder, auf deren Rücken die oben erwähnte Testerei durchgeführt wurde und weiterhin wird. Gerade in der Grundschule erleben die Schülerinnen und Schüler diese zusätzlich zu den Klassenarbeiten von oben aufgedrückten Prüfungssituationen als sehr belastend. Vielfach werden innerhalb eines Lernbereiches wiederholt Inhalte abgefragt, die beispielsweise aufgrund schulinterner Absprachen noch nicht behandelt wurden. Zudem ist die Bearbeitungsdauer der Aufgaben begrenzt. So erleben sich Kinder bereits in einem frühen Alter als defizitär (s. o.). Der erwartete Effekt, der der signifikanten Verbesserung der Leistungen, blieb obendrein aus, wenn man den jährlichen Veröffentlichungen dazu Glauben schenken darf. Das Gras wächst nun mal nicht schneller, wenn man daran zieht.

Handel mit Bildung

Innerhalb dieses Szenarios findet nicht nur ausschließlich eine reine Abfrage derartig überprüfbarer Lernziele statt, sondern auch und gerade eine Veränderung schulischer Inhalte und ihrer Bewertung „von außen“. Wichtige ethische oder moralische Zielsetzungen des Bildungsprozesses wie beispielsweise die Gewissensbildung, die Entwicklung selbstständigen Denkens oder das kritische Hinterfragen von Zusammenhängen fallen auf diese Weise komplett aus der Bewertung von Schülerleistungen heraus, weil sie so nicht messbar sind. Die auf diese Weise erworbenen Ergebnisse genügen jedoch, um – anstelle von staatlicher Seite – von privaten Anbietern ausgehend, von Wirtschaftsunternehmen also, einen „Bildungsmarkt“ zu schaffen und zu etablieren, um mit Bildung Handel treiben zu können und Lehrkräfte wie Schülerschaft zu Kunden schlechter, weil nicht von pädagogischen Fachleuten erstellter Ware zu machen sowie Schule und Bildung auf diesem Wege grundlegend nach ökonomischen Grundsätzen zu verändern (5). Unzählige Fortbildungen für die Lehrkräfte und die Entwicklung schulinterner Konzepte schlossen sich an, die oftmals ebenfalls Eingang in die bereits eingangs erwähnten Schulprogramme fanden. Zeit und Raum zur internen Reflexion blieben kaum. Trotz verordneter regelmäßiger Evaluation, über die oftmals „nach oben“ Rechenschaft abgegeben werden muss. So wurden – auch befeuert durch ein chronisch unterfinanziertes Bildungssystem – über die Lehreraus und -fortbildung Inhalte aus rein wirtschaftlichen Interessen fest in Schule und Bildung implementiert.

Auch Begriffsfindungen wie „Bildungsstandards“ oder „Kompetenzen“, anstelle von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnissen beispielsweise, sowie das in diesem Zusammenhang geforderte stetige Methodentraining, z. B. nach Klippert, müssen kritisch bewertet werden (6). Nicht das Lernen wird gelernt, nicht das Aneignen von Wissen, nicht das Entdecken von Talenten oder Begabungen, nicht die Entwicklung sozialer und gesellschaftlicher Fähigkeiten, nicht Bildung also. Stattdessen findet eine Reduktion auf das Hin- und Herspringen zwischen unterschiedlichen Aufgabenformen und deren Abarbeiten statt; der Lerninhalt selbst tritt auf diese Weise oftmals in den Hintergrund, der Schüler und die Lehrkraft ebenso. Vorbereitung auf ein Leben in den Diensten des Marktes. In der Lehreraus und -fortbildung sind neoliberale Prinzipien also längst angekommen. Gerade engagierte Lehrkräfte tappen oftmals in die ausgelegten Fallen; sie bilden sich gerne fort und möchten ihren Unterricht innovativ gestalten. Sie werden auf diesem Wege selbst ebenso instrumentalisiert wie manipuliert, um den auszubeutenden humanen Rohstoff entsprechend zu konditionieren. Vorwürfe, man ginge nicht mit der Zeit, man gehöre zu den ewig Gestrigen etc. diskreditieren die eigene kritische Vernunft.

Besonders oder gerade in Zeiten von Corona wurden viele der weiter oben bereits angesprochenen Lernprogramme angeschafft. Für das Homeschooling. Aber auch wegen des Lehrermangels. Anstelle des Schreibens von Buchstaben, Wörtern, Texten beispielsweise werden dort, von den Klassenkameraden wie der Lehrkraft isoliert, Buttons gedrückt, im Multiple-Choice-Verfahren, oder Lückentexte mit einzelnen Wörtern gefüllt. Bei erfolgreichem Arbeiten können bei einigen Programmen „Coins“, Münzen, gesammelt und auf diese Weise Belohnungen eingeheimst werden. Ohne zu hinterfragen, ob ein solches Belohnungssystem pädagogisch sinnvoll ist. Ökonomisch gesehen, ist es das wohl. Der Preis, der materielle Gewinn, erhält mehr Bedeutung als das dafür Vollbrachte.

"... und so schreiben wir ein "b" ... (GEW Hessen)

… Mangelverwaltung … Und nicht nur das …

Lehrkraft oder Lernbegleiter? Das ist hier die Frage!

Die Lehrkraft wird in einem solchen Prozess nicht mehr benötigt. Weder bei der Bereitstellung, der Durchführung noch der Kontrolle der Aufgaben. Auch nicht für das für das Feedback. Reduktion auf die Interaktion zwischen Mensch und Maschine. Wo bleibt der ganzheitliche Gedanke? Lernen mit Hirn, Herz und Hand, Reihenfolge beliebig. Lernen funktioniert über verschiedene Sinne und ist alles andere als eindimensional. Je größer der Förderbedarf auf Seiten der Lernenden, umso bedeutsamer wird dies. Hier ist die Lehrkraft gefragt, nicht digitale Lernprogramme, die gerade für Förderkinder oftmals eine Reizüberflutung darstellen können. Schnelle Bildfolgen, lustige Männchen, bunte Farben, Geräusche, Musik „untermalen“ die Aufgabenstellung und lenken vom Lernen ab. Was über digitale Lernprogramme aber mit Sicherheit gelehrt wird, ist das schiere Abarbeiten von Aufgaben, ohne aktiven Einfluss auf deren Abfolge, auf deren Ab- bzw. Herleitung. Die Sinnhaftigkeit, ebenso die Selbstwirksamkeit dieser Aufgaben kann nicht hinterfragt, die Notwendigkeit nicht geklärt werden. Ein Dialog findet nicht statt. Der Schüler ist mit dem Programm allein gelassen.

Bildung ist, als Teil von Erziehung, nur in Beziehungen zu erreichen. Vereinzelung innerhalb des Lernprozesses ist nicht mit individualisiertem Lernen gleichzusetzen. Das ist ein folgenreicher Irrtum. Soll Bildung denn nicht gerade die Vereinzelung durchbrechen? Um sich über die Auseinandersetzung mit anderen an Wissen, an (Er)Kenntnissen zu bereichern und seine Gedankenwelt zu erweitern, sich zu emanzipieren, sich zu verwirklichen, seine Begabungen und Talente zu entdecken, Empathie und Solidarität zu entwickeln (auch, um der eingangs erwähnten „Verschuldung“ entgegenzuwirken), und sich darüber in Bezug zum großen Ganzen zu setzen? Bildung ist Dialog. Ohne dies wird Bildung behindert, zumindest aber ebenso weitreichend wie tiefgehend eingeschränkt und verflacht. Die neoliberale Bildungsidee untergräbt und entwertet die grundlegende Rolle, die die Lehrkraft oder die Mitschüler in diesem Gefüge spielen. Wortneuschöpfungen wie „Lernbegleiter“ für Lehrer manifestieren dies. Sprache schafft Realitäten. Vorsicht ist geboten.

Schaut man den Lese- und Schreiblernprozess von Grundschülern genauer an, innerhalb dessen grundlegende Fähigkeiten erworben werden, die Bildung vielleicht überhaupt erst möglich machen, wird vieles klarer. Lesen und schreiben können ist ein Meilenstein der kindlichen Entwicklung. Die haptischen Erfahrungen des Hinterlassens einer Spur auf der Tafel, auf dem Papier, im Sand, der damit verbundenen Druck des Schreibwerkzeuges, des Fingers, des Stöckchens, des Stiftes oder der Kreide, der unmittelbare Zusammenhang zwischen Tun und Ergebnis, zwischen Laut und Buchstabe, das entscheidende kommunikative Moment dahinter, die Spuren, die diese Prozesse im Gehirn hinterlassen, sind grundlegende Lernerfahrungen, die weitere erst möglich machen. So verhält es sich auch beim Rechnen. Kastanien und Erbsen zählen, Steine und Sandkörner miteinander vergleichen, ordnen, kategorisieren, alles in der Hand zu halten, zu fühlen, Mengen zu erfassen: 10 ist und bleibt gleich 10, egal ob groß oder klein, dick oder dünn, weich oder hart, einfarbig oder bunt, nass oder trocken. Dies sind Primärerfahrungen, ohne die sich weiterführende mathematische Kenntnisse nicht aufbauen lassen. Kinder müssen die Welt im wahrsten Sinne des Wortes begreifen, damit sie sie verstehen können.

Anders zeigt sich dies bei digitalen Lernprogrammen. Mengen in einer virtuellen Welt am Bildschirm zählen und per Mouse Click hin und herschieben, Buchstaben oder Zahlen tippen kann da nicht mithalten. Im Gegenteil. Kinder – mit Vorsatz – daran zu hindern, nach dem Erwerb der Schriftsprache mit einem Stift in der Hand Gedanken, wirkliche, eigene Gedanken aufzuschreiben, festzuhalten, zu verwerfen, durchzustreichen, neu zu denken, um stattdessen mit dem Zeigefinger eine Taste zu drücken, ist genauso, als würde man ein Kleinkind, das eben laufen gelernt hat, gleich im Anschluss daran in einen Rollstuhl setzen und die weitere Übung, den Automatisierungsprozess in dieser Fähigkeit, damit unterbinden. Diese Art des Lernens aber ist eine praktische Vorbereitung: flexibel und angepasst ins (Arbeits)Leben. Der Homo Oeconomicus lässt grüßen. Wir, die Fachleute, haben uns die Bildungshoheit aus der Hand nehmen lassen. Bildung hat ihre Autonomie verloren (7); sie wird von außen gesteuert.

Schöne neue Welt?

Kristina Sinemus (CDU), Ministerin für Digitale Strategie und Entwicklung, möchte Hessen, und hier besonders das Rhein-Main-Gebiet, zum Silicon Valley Europas machen (8). Im Jahr 2022 wurde an zwölf hessischen Schulen das Schulfach „Digitale Welt“ im Schulversuch eingeführt, dessen Ziel es ist, „…Schulen in die Lage zu versetzen, alle Schülerinnen und Schüler an die digitale Welt heranzuführen und sie vollumfänglich auf das Arbeitsleben vorzubereiten“ (9). Die wöchentliche Stundentafel solle künftig dafür nicht erhöht werden. Das bedeutet konkret, dass an anderer Stelle Stunden eingespart werden müssten, um dieses Fach zu etablieren (10). Im Hessischen Schulgesetz ist festgehalten: „Die Schule ist zur Wohlfahrt der Schülerinnen und Schüler und zum Schutz ihrer seelischen und körperlichen Unversehrtheit, geistigen Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit verpflichtet. Darauf ist bei der Gestaltung des Schul- und Unterrichtswesens Rücksicht zu nehmen“ (11). Stattdessen wird hier dazu beigetragen, Denkmuster zu verfestigen, die das zukünftige Verhalten der Schülerinnen und Schüler nachhaltig beeinflussen und ein bestimmtes, eingeschränktes, ein ökonomisiertes Bild vom Leben, von der Gesellschaft, der Natur zeichnen. Dem muss Bildung widersprechen.

Nichtsdestotrotz sind die neuen Technologien, die Digitalisierung und die damit verbundenen Veränderungen bis hin zur Künstlichen Intelligenz, Chatbots etc., mit all den Chancen und Gefahren, die sie bergen, unsere Gegenwart und Zukunft. Mittlerweile hegen selbst IT-Experten Bedenken hinsichtlich der Weiterentwicklung „gefährlicher KI“, denn sie fürchten nicht nur Folgen für die Gesellschaft, sondern gar einen Kontrollverlust (12). Auch und gerade darum haben besagte Technologien unzweifelhaft ihren Platz in Schule und Bildung. Auf einer anderen Ebene jedoch. Denn immer muss dabei eines klar sein: Die Maschine muss dem Menschen dienen, nicht umgekehrt. Ohne Autokraten und Demokratiefeinden in die Hände zu spielen oder im Interesse gewissenloser Unternehmer Märkte zu manipulieren. Sie können ein brauchbares (“Hilfs“) Instrument bezüglich der Bildung, des Lernens werden und die Aneignung von Fähigkeiten und Wissen unterstützen, wenn man gelernt hat, unabhängig zu entscheiden, wann, wo, wofür und wie man sie einsetzt und eben genug kritische Vernunft besitzt, um den Schaden, den sie anrichten können, abzuschätzen. Überlassen wir unsere kritische Vernunft unreflektiert den Anbietern der neuen Technologien, kehren wir aktiv in die Unmündigkeit zurück.

Eigenständig, frei und im besten Sinne flexibel. Aber kein bisschen „angepasst“

Natürlich braucht auch Deutschland ausgebildete Fachkräfte für den IT-Bereich, aber eben mit einem entsprechenden Studium – im Anschluss an eine erfolgreich absolvierte Schullaufbahn, die die Heranwachsenden möglichst breit gefächert aufgestellt haben sollte. Für Lehrkräfte gilt dies ebenso. Auch sie müssen breit gefächert aufgestellt sein und in der Lage, über den Tellerrand hinauszublicken. Denn sie vermitteln nicht nur Wissen. Sie müssen sich ihrer persönlichkeitsbildenden und gesellschaftswirksamen Aufgabe und der damit verbundenen übergreifenden Dimension sehr bewusst sein und ihre Wächterfunktion wahrnehmen, auch und gerade bereits bei jungen und sehr jungen Lernenden. „Lernbegleiter“, in ihrer Funktion beschnitten, können dies nicht leisten. Erschwerend kommt hinzu, dass viele derer, die heute ein Lehramtsstudium beginnen, bereits selbst ein neoliberal unterwandertes Schulsystem durchlaufen haben.

Die Lehrkraft wird hier im besten Sinne auch und gerade als Politiker, zumindest aber als politisch wirksames Mitglied der Gesellschaft beansprucht. Bildung darf nicht ausschließlich Mittel sein, den Wettkampf auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen, bessere Positionen oder höhere Gehälter zu erlangen (13). Bildung muss auch Grundlage sein für ein sogenanntes „Bürgerwissen“ und zu einem Verständnis für sich selbst, den anderen, für die Gesellschaft, für Kultur und Tradition beitragen. Um anstehende wie zukünftige Probleme lösen zu können. Auch der musische, kreative, kulturelle Lernbereich darf davon nicht abgekoppelt oder durch „Wichtigeres“ ersetzt werden. Für den Erhalt der physischen wie psychischen Gesundheit, im Interesse des Individuums ebenso wie dem der Gesellschaft. Aber vor allem auch für eine funktionierende lebendige, offene Demokratie. Und spätestens diese muss in Gemeinschaft, in emanzipierten, unabhängigen, solidarischen, vor allem echten Beziehungen gelebt werden. Eigenständig, frei und im besten Sinne flexibel. Aber eben kein bisschen „angepasst“.

Eva M. Wehrheim


Eva M. Wehrheim, Grundschullehrerin i. R. und Mutter von drei Kindern, ist seit zehn Jahren Mitglied der AG „Gegen die Ökonomisierung der Bildung“ der GEW Hessen / Frankfurt. In der aktuellen Zusammensetzung (Dr. Gabriele Frenzel, Maria Heydari, Günter Köhler, Thomas Sachs, René Scheppler, Herbert Storn, Eva M. Wehrheim) haben die Mitglieder der AG bereits sechs u. a. auch ganztägige Fortbildungsveranstaltungen organisiert. Zu Gast waren beispielsweise Prof. Thilo Naumann, der freie Journalist Matthias Holland-Letz, Dr. Stefan Siemens, Dr. Tim Engartner, Prof. Dr. Ralf Lankau, Prof. Dr. Jochen Krautz und zuletzt Dr. Andreas Hellgermann. Weitere Veranstaltungen sind geplant.

Link: Weitere Informationen zur Arbeit der AG.

Andreas Hellgermann (1960), Dr. theol., ist Lehrer an einem Berufskolleg in Münster mit den Fächern Deutsch und katholische Religionslehre sowie Mitarbeiter im Arbeitskreis Religionslehrer_innen im Institut für Theologie und Politik in Münster mit den Arbeitsschwerpunkten neoliberale Bildung, instrumentelle Vernunft, befreiende Pädagogik (Paulo Freire).
Letzte Veröffentlichungen: kompetent, flexibel, angepasst. Zur Kritik neoliberaler Bildung (2018) und zusammen mit dem AK Religionslehrer_innen im ITP: Künstliche Intelligenz oder kritische Vernunft. Wie Denken und Lernen durch die Digitalisierung grundlegend verändert werden (2020); Aufsätze zu Klima, Bildung, Digitalisierung, instrumentelle Vernunft.


Anmerkungen, Links und Quellen

  1. s. FLZ 1/23
  2. https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/ (24.01.2023)
  3. Freire, Paulo: Bildung und Hoffnung, Münster/New York/München/Berlin, 2007, Hg. Peter Schreiner u. a.
  4. DIE ZEIT 26.Januar 2023, Martin Spiewak: Die Schule brennt, S. 1
  5. vgl. z. B. https://www.igmetall.de/download (29.03.2023)
  6. vgl. z. B. https://www.uni-frankfurt.de/52950837/klippert.pdf, S.79 ff.,(22.01.2023)
  7. s. Hellgermann, Andreas: kompetent.flexibel.angepasst. Zur Kritik neoliberaler Bildung, 2018, S. 36
  8. vgl. z. B. https://www.hessenschau.de/wirtschaft/hessen (23.01.2023)
  9. https://kultusministerium.hessen.de/presse/hessen-startet-neues-schulfach-digitale-welt, (22.01.2023)
  10. https://www.fr.de/rhein-main/landespolitik/hessen-bekommt-ein-neues-schulfach-91660696.html
  11. Hessisches Schulgesetz in der Fassung vom 1. August 2017, Erster Teil: Recht auf schulische Bildung und Auftrag der Schule, Grundsätze der Verwirklichung, § 3, 9
  12. https://www.t-online.de/digital/aktuelles/id_100152200/elon-musk-will-gefaehrliche-ki-entwicklung-stoppen.html
  13. vgl. Heisterhagen, Nils: Demokratie braucht Allgemeinbildung, FR, 22.01.2017