»Medientheorie« in der Schule

Plädoyer für ein neues Unterrichtsfach (1)

von Nils B. Schulz (Berlin)

»Medientheorie« als eigenständiges Fach

Wenn man davon ausgeht, dass wir uns in einer der größten kulturellen Revolutionen seit dem Neolithikum befinden, in der sogenannten »digitalen« oder »informatischen Revolution« (über die superlativischen Begriffe mag man streiten), dann scheint es unabdingbar, dass zukünftige Lehrerinnen und Lehrer sich während des universitären Studiums mit dieser Zeitdiagnose auseinandersetzen: philosophisch, soziologisch, sozialpsychologisch, phänomenologisch (im Sinne einer Phänomenologie des Leibes). Vor allem das Referendariat müsste sich medienpädagogischen und medientheoretischen Fragen widmen; bisher geschieht dies aufgrund des Primats der Methoden- und Kompetenzorientierung nur in Ansätzen und oft zu unkritisch. Man könnte dies das Medientheoriedefizit der Lehrerausbildung nennen.

Was den Schulunterricht anbetrifft, verfolgt das KMK-Strategiepapier dezidiert eine integrative Strategie: Alle Fachcurricula müssen ihren »Beitrag« zur Vermittlung der »Kompetenzen in der digitalen Welt« (2) leisten. Eine andere bzw. zusätzliche Option wäre die Etablierung eines neuen Schulfachs »Medientheorie« oder – wie die Bremer Informatik-Professorin Heidi Schelhowe vorschlägt – »Digitale Medien« (3). Entwicklungspsychologisch wäre es sinnvoll, dieses Fach ab dem 7. Schuljahr zu unterrichten; und überhaupt sollte der Unterricht der Grundschule weitestgehend bildschirmfrei sein. (4) Das Fach »Medientheorie« würde einen neuen Studiengang erfordern, der Lehrerinnen und Lehrer sowohl in Informatik als auch kulturwissenschaftlich und medienphilosophisch ausbildet.

Der Vorteil wäre, dass medientheoretische Fragen in der Schule systematisch entwickelt werden könnten. Das jetzige integrative Konzept ist dazu prädestiniert, kognitive Dissonanzen zu produzieren; denn die unterschiedlichen digitalen Nutzungsstrategien der Lehrkräfte konfrontieren die Schülerinnen und Schüler zuweilen mit unkommentierten oder sich diametral widersprechenden Überzeugungen und Verhaltensweisen. Gäbe es das Fach »Medientheorie« als gemeinsam geteilten Bezugshorizont, so könnten Schülerinnen und Schüler ihr dort erworbenes Wissen nutzen, um Digital-Projekte in anderen Fächern und Kursen »medienmündig« (Paula Bleckmann) zu beurteilen. Wenn also der Englischlehrer unkritisch ein Instagram-Projekt durchführt oder die Geschichtslehrerin für die Internetrecherche am interaktiven Whiteboard »Google« als Suchmaschine benutzt, wären die Schülerinnen und Schüler in der Lage, sich dazu reflektiert zu verhalten und zum Beispiel über trackingsichere Alternativen zu diskutieren.

Ein etwas anders konzipiertes Fach, das auf die Kolonisierung der Lebenswelt mit digitalen Geräten reagiert, schlug der Mainzer Philosoph und Kognitionswissenschaftler Thomas Metzinger schon 2006 vor. Metzinger plädierte für eine neue »Bewusstseinskultur« und die Etablierung eines Unterrichtsfachs »Aufmerksamkeitsmanagement« (5), das auch Meditieren beinhalten sollte. Wenn auch der Management-Begriff sicherlich zu ökonomistisch ist, so versucht Metzingers Vorschlag den zunehmenden Aufmerksamkeitsdefiziten Jugendlicher entgegenzuwirken, ja überhaupt erst eine Sensibilität dafür zu schaffen, dass zum Beispiel der Social-Media-Konsum oder auch intensives Computerspielen junge Menschen manipuliert, reizüberflutet und permanent ihr limbisches Belohnungssystem aktiviert. Metzingers Überlegungen sprechen auch für eine Stärkung der Fächer »Kunst«, »Werken« und »Sport«. Der Phänomenologe Gernot Böhme nennt das »antizyklische Bildung« (6).

Den Forderungen nach einem neuen Fach wird jedoch schnell entgegengehalten, das sich ein weiteres Fach nicht »organisieren« ließe. Die Stundentafel sei zu voll; und wahrscheinlich folgt die KMK-Strategie ja auch diesem organisationsökonomischen Argument. Man möchte an der alten Stundentafel nichts verändern, obwohl man ständig die Disruptions- und Revolutionsmetaphorik im Munde führt. Die zunehmende Ausdifferenzierung der Lebenswelt führt jedoch zwangsläufig zu neuen Fächern, Zeit- und Unterrichtskonzepten; und darüber müsste man nachdenken, ohne durch das gänzliche Auflösen bestimmter Zeitrhythmen und Raumstrukturen, wie es die sogenannte neue Lernkultur mit ihrer Idee der »Lernlandschaften« konzeptualisiert, der inneren Unruhe vieler Jugendlicher weiter zuzuarbeiten.

»Medientheorie« als Zusatzkurs

In Berlin gibt es seit einigen Jahren immerhin die Möglichkeit, in der Oberstufe sogenannte Ergänzungs- bzw. Zusatzkurse einzurichten. Ein solcher Kurs kann ein »Medientheorie«-Kurs sein, wie ihn zum Beispiel das Robert-Havemann-Gymnasium in Pankow anbietet. Er erstreckt sich über zwei Halbjahre. Zunächst entwickeln die Schülerinnen und Schüler einen Medienbegriff, der im Laufe des Kurses konkretisiert wird, und zwar aufgrund von Lektüren grundlegender Texte der Medientheorie – meistens mit Blick auf das digitale Medium, das die Lebenswelt der Jugendlichen am intensivsten bestimmt: das Smartphone.

Leitend ist Dietmar Kampers Formulierung, dass Technik immer janusköpfig ist. Für die Digitaltechnik heißt das, dass man sowohl Steuermann (gr. »kybernetes«) als auch Gesteuerter, »Anhängsel« (Theodor W. Adorno) der Kybernetik ist. Der Kurs thematisiert vor allem Gefahren eines digitalen Überwachungskapitalismus: das Gesteuert- und Kontrolliert-Werden. So kompensiert der »Medientheorie«-Kurs die zuweilen eindimensionalen Methoden anderer Unterrichtsfächer, die den Einsatz von Digitaltechnik weder fachdidaktisch noch datenschutzrechtlich reflektieren.

Die Schülerinnen und Schüler des »Medientheorie«-Kurses analysieren YouTube-Videos, erörtern sozialpsychologische Fragen der Social-Media-Kommunikation, vergleichen digitale und analoge Medien, setzen sich mit den Snowden-Veröffentlichungen und Fragen der Datensicherheit auseinander – auch praktisch. Einige Themen können als Projektarbeiten durchgeführt werden, die dann in eine kleine Ausstellung münden. So engagieren sich die Schülerinnen und Schüler selbst am »Projekt der Aufklärung«. Man vergisst schnell, dass die jetzigen Abiturienten 2013 erst neun Jahre alt waren. Sie hören den Namen »Snowden« in diesem Kurs oft das erste Mal.

Auch wurden in der Vergangenheit immer wieder Exkursionen unternommen: ins Filmmuseum oder ins Kino, um den Desktop-Film »Searching« zu sehen und ihn anschließend im Unterricht zu analysieren, oder zu dem alternativen E-Mail-Unternehmen „Posteo“ in Berlin-Kreuzberg, wo unter anderem die Vor- und Nachteile des Fairphones und ökologische Fragen des Digitalkonsums erörtert wurden, oder auch zu akademischen Vorträgen wie beispielsweise dem »Urania«-Vortrag Shoshana Zuboffs über »Surveillance Capitalism and Democracy«.

Da der Kurs ein sogenannter Zusatzkurs ist, bietet er die Möglichkeit, auf Schülerwünsche einzugehen. Meist sind sie an einer Auseinandersetzung mit dem Thema »Künstliche Intelligenz« interessiert, dem man sich über Spielfilme wie »Ex machina« oder »Matrix« annähern kann. So ist Filmanalyse eigentlich immer ein zentrales Thema des zweiten Halbjahrs. In gewisser Weise wohnt dem »Medientheorie«-Kurs so etwas wie eine kontingente Weiterbildungsstruktur inne, da Schülerinteressen zu einem gemeinsamen Erschließen neuer Themenfelder führen – wie im vergangenen Jahr »Clickbating« oder die medienkritische Aufarbeitung der »Drachenlord«-Berichterstattung, die zugleich das Phänomen des Cybermobbings in den Fokus rückte.

Was zuletzt nicht mehr funktioniert hat, ist eine gemeinsame Offline-Phase von drei (ursprünglich fünf) Tagen; zu abhängig sind die Jugendlichen von der Handynutzung – auch weil viele schulinternen Informationen digital abgerufen werden. Dabei war eine Auswertung dieser Phase in früheren Jahren sehr interessant. Manche Schülerinnen und Schüler beendeten das Offline-Dasein schon nach zwei Stunden: Sie hielten die Abstinenz nicht aus. Dann rückt das Suchtthema ganz konkret in den Fokus. Viele sprachen von unheimlicher Langeweile – ein philosophisch, vor allem phänomenologisch, sehr ergiebiges Thema. Mehr als drei Schüler oder Schülerinnen haben die Offline-Phase nie durchgehalten.

Schließlich bietet der »Medientheorie-Kurs« einen guten Rahmen für Fragen der ästhetischen Bildung. Mediengestützte Vorträge gehören zum Schul- und Prüfungsalltag von Schülerinnen und Schülern. Jedoch ist die gestalterisch-konzeptionelle Arbeit an digitalen Folien selten Gegenstand des Unterrichts; auch deshalb, weil sich kaum eine Lehrkraft dafür verantwortlich fühlt oder entsprechend ausgebildet ist. So versucht der Kurs Schülerinnen und Schüler für kommunikations- und designtheoretische Fragen zu sensibilisieren, die das Gestalten digitaler Präsentationen betreffen. Dabei geht es weniger um eine Anleitung zur Foliengestaltung, sondern vielmehr um ein Konzept, das Schülerinnen und Schüler unterstützt, mithilfe von Gestaltungsprinzipien und textlinguistischen Überlegungen foliengestützte Vorträge bewusst vorzubereiten und reflektiert zu beurteilen. Es handelt sich um ein offenes Konzept – mit dem Ziel, die Entwicklung der gestalterischen Persönlichkeit zu fördern. (7)

Resümee

Der »Medientheorie«-Kurs ist zum einen systematisch aufgebaut, indem er zunächst anhand von theoretischen Texten – von Günther Anders und Marshall McLuhan über Vilém Flusser bis Tilman Baumgärtel – ein Begriffsvokabular entwickelt, mit dem Schülerinnen und Schüler sowohl ihren eigenen Mediengebrauch als auch weitere medientheoretische Fragen reflektieren können; zum anderen ist der Kurs offen für Themen, die Schülerinnen und Schüler aus ihrer eigenen Alltagswelt einbringen.

Würde man ein Fach »Medientheorie« ab der Klasse 7 einführen, müsste man sicherlich induktiver vorgehen und die Themen altersgemäß entwickeln. Ein Desiderat ist überhaupt ein fehlendes Schulbuch, das aktuelle medientheoretische Texte vorstellt und didaktisch aufbereitet. Ein solches Buch würde sich allein schon für das Semesterthema »Kommunikation« des Oberstufen-Lehrplans »Deutsch« anbieten; denn dieses Semester – in Berlin ist es das erste Semester der Qualifikationsphase – konzentriert sich meist auf die Analyse des Kommunikationsverhaltens mittels digitaler Medien.


  1. Die folgenden Ausführungen sind eine überarbeitete und erweiterte Fassung des Kapitels »Oberstufenkurs Medientheorie – ein unterrichtspraktisches Beispiel« in: Nils B. Schulz, Erziehung zur Medienmündigkeit. Überlegungen zu einer moderaten Integration von Digitaltechnik in den Unterricht, in: Handbuch Schulleitung und Schulentwicklung, Dr. Josef Raabe Verlags-GmbH (2/2019), S.14ff.
  2. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2018 Digitalstrategie_2017_mit_Weiterbildung.pdf (S.15f.) (abgerufen am 06.06.2022)
  3. https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/gesellschaft/digitalisierung-bildung-bremen-schule-100.html (zuletzt abgerufen am 03.01.2019)
  4. Zum Medienkonsum von Jugendlichen und Kindern siehe grundsätzlich Paula Bleckmann, Medienmündig. Wie unsere Kinder selbstbestimmt mit Medien umgehen lernen, Stuttgart 2012 und Ralf Lankau, Was Hans nicht lernt … Kritische Statements zur Digitalisierung in der Grundschule, in: https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/was-haenschen-nicht-lernt-teil-ii.html (abgerufen am 10.06.2022)
  5. Zit. nach Ingo Leipner, Die Katastrophe der digitalen Bildung. Warum Tablets Schüler nicht klüger machen – und Menschen die besseren Lehrer sind, München 2020, S.127
  6. Siehe dazu Gernot Böhme, Analog versus digital, in: ders. (Hg.), Analoge Kompetenzen im digitalen Zeitalter, Darmstadt 2022, S. 9
  7. Siehe dazu Silke Ihden-Rothkirch/Nils B. Schulz, Digitale Folien im Unterricht. Gestaltung und Beurteilung von Präsentationen, in: »Bildungsmanagement. Starke Lehrer – Starke Schule«, Dr. Joseph Raabe-Verlags GmbH (3/2020)