Die Primarschule steckt in Atemnot. Alles ist wichtig geworden. Doch für das zukunftsfähig Wichtige fehlt vielfach die Zeit. Gleichzeitig verliert sich der Bildungsdiskurs in Oberflächenphänomenen. Eines kommt kaum zur Sprache: wirksames Lernen. Plädoyer für eine (Rück-)Besinnung aufs Unterrichten.
Von Carl Bossard
Es sei ein Diamant, der die Dorfsilhouette präge, sagen die Einwohner. So etwas wie ein ikonischer Ort. Gemeint ist das historische Schulhaus der jurassischen Gemeinde Loveresse im Vallée de Tavannes. Das Primarschulhaus im Berner Jura stammt aus dem Jahr 1858. Dem jungen Bundesstaat von 1848 ist guter Unterricht ein fundamentales Anliegen. Vehement drängt er zum Aufbruch. Die Uhr signalisiert die neue Epoche: Das Zufallslernen hat ein Ende; das Schulleben geht nun im Takt. Die Zeit der Uhr wird zur standardisierten Normalität. Zeiten der Schule sind jetzt Zeiten des Lernens. Am Schulhaus von Loveresse wird’s ersichtlich. Und noch etwas macht das bauliche Bijou bewusst: Das Lernen erhält einen zentralen Stellenwert. Das schmucke Gebäude steht mitten im weitverzweigten Dorf.
Lesen als Schlüssel für die Teilhabe an der Welt
Den Unterricht ins Zentrum rücken, das Lernen bedeutsam machen – das war die Idee der Aufklärer, das wollte der erste Bildungsminister Philippe Albrecht Stapfer in der Zeit der Helvetik (1798-1803) und mit ihm Johann Heinrich Pestalozzi, das lag den Promotoren des neuen Schweizer Bundesstaates am Herzen. Ihre Idee: Nur ein gebildetes Volk kann den neuen demokratischen Staat gestalten. Dazu müssen alle Leute lesen und schreiben können; darum muss die Schule die Kinder literarisieren: Lesen als Schlüssel fürs Lernen und die Teilhabe an der Welt – und der Demokratie. Dieses Anliegen stand im Zentrum. Es wurde hartnäckig verfolgt, oft unerbittlich streng; nicht selten mochte es gar stur und stumpfsinnig wirken. Die alte Schule!
«Meine Kinder haben in der Schule kaum gelesen»
Die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen die Methoden. Doch manche Ziele bleiben gleich: darunter à fond lesen lernen und das Gelesene verstehen. Konzentriertes Lesen oder «Deep Reading», wie es die Leseforschung nennt, muss geduldig gelehrt, intensiv und auch gemeinsam geübt und reflektiert werden. Doch die notwendige Konsequenz für dieses «Deep Reading» geht heute vergessen. Vielfach fehlt die Zeit; die To-do-Fülle verlangt anderes. «Meine Kinder haben in der Schule kaum gelesen. Das ist fatal.» (1) So berichtet der Schriftsteller Lukas Bärfuss und spricht von «einer fundamentalen Bildungsmisere».
Gefordert ist eine (Rück-)Besinnung auf das Unterrichten.
Aus einem Einzelbeispiel aufs Allgemeine zu schliessen, ist problematisch. Doch Bärfuss ist mit seiner Analyse nicht allein. Vielen Eltern geht es gleich. Sie wissen um das Manko beim Üben und springen in die schulische Lücke; sie trainieren mit ihren Kindern zu Hause oder engagieren Privatinstitute. Entsprechend boomen die inoffiziellen Angebote. Auch das ist bekannt. Längst schon sollte die Bildungspolitik darum ihre Massstäbe überprüfen.
Die PISA-Ergebnisse beim Lesen sind ein Alarmzeichen, ebenso die hohe Durchfallquote bei beruflichen Aufnahmeprüfungen im Fach Deutsch. Gefragt ist nicht die alte Schule, gefordert ist nur das beharrliche Üben und Vertiefen in den Kernbereichen der neuen Schule. Das erfordert keine Rückkehr zu Vergangenem; das Können in den elementaren Kulturtechniken bedingt lediglich eine (Rück-)Besinnung auf das Unterrichten und das, was wirksames Lernen ausmacht: Dazu gehört das Aufbauen mit dem Erkennen und Verstehen des neu Erlernten, dazu zählt das Konsolidieren mit dem Festigen und Üben, sei es von Wissen oder Können, und dazu kommen das Anwenden des Gelernten sowie das Zusammenspiel dieser Teilprozesse. Es ist die Grammatik des Lernens – etwas, das nicht veraltet und immer gilt. Auch in der neuen Schule.
Höhere Gedankenlosigkeit bei aktuellen pädagogischen Schlagworten
«Alte Schule oder neue Bildung?» So fragte kürzlich eine SRF-Sternstundesendung.(2) Gast war der Zürcher Hochschullehrer für Allgemeine Pädagogik, Professor Roland Reichenbach. Zur Sprache kam eine ganz Palette von pädagogisch Aktuellem und vordergründig Dringlichem: Abschaffung der Noten, Elimination der Hausaufgaben, das Selbstorientierte Lernen SOL, dazwischen ein kurzer Hinweis auf PISA und die Neue Autorität, etwas über John Hattie und seine umfassende Studie zum wirksamen Unterricht sowie ein Querblick auf Hegels Bildungsidee. Ins gedrängte Gesprächsfeld rückten auch die Digitalisierung und der Lehrplan 21 mit seiner Kompetenzfülle, dann der Wert des Auswendiglernens und eine Prise Orientierungswissen, dazu die Problematik der Integration und Inklusion mit dem hohen Anspruch an die Lehrpersonen.
Munter hüpfte es hin und her – von Thema zu Thema. Das gab dem geerdeten und praxiserfahrenen Erziehungswissenschafter Reichenbach die Gelegenheit, einige dieser gegenwärtigen Oberflächenphänomene zu beleuchten und sie in anderes Licht zu rücken. Wertvolle Erkenntnisperlen, aber verstehende Tiefe ergab das kaum, vor allem keinen bildungsphilosophischen Diskurs und kein Hineinzoomen in unterschiedliche Bildungsverständnisse. Erhellend bei allem war sein Hinweis auf die höhere Gedankenlosigkeit beim mainstreamartigen Nachbeten zeittrendiger pädagogischer Schlagworte.
«Alte Schule oder neue Bildung?» Was gilt nun?
Etwas ratlos blieb der Beobachter zurück. «De omni aliquid et de toto nihil». So hat ein gebildeter Priesterlehrer um 1800 den damaligen Stadtzuger Unterricht charakterisiert. «Von allem etwas und vom Ganzen nichts!» Sein Satz steht in der berühmten Stapfer-Schul-Enquête, der ersten helvetischen Schulevaluation. Ähnlich der Eindruck nach dieser Sendung.
«Alte Schule oder neue Bildung?» Was gilt nun? Und was wäre für gutes Lernen wichtig? Weiss die Bildungspolitik überhaupt, was sie will und wohin sie steuern soll? Welche Bildungsidee leitet sie? Fragen über Fragen.
Für die Zukunft sanieren
Die alte Schule wurde in den vergangenen Jahren radikal umgebaut – mit Blick auf eine neue Bildung. Kaum ein Stein blieb auf dem andern. Doch über die Wirkung der ungezählten Reformen kann die Unterrichtsforschung kaum verbindliche Aussagen machen. Sie weiss es schlicht nicht (3).
Auch die alte Schule von Loveresse wird umgebaut (4). Dabei wird etwas Weniges angebaut und der Estrich ausgebaut. Das Fundament und der feste Bau bleiben bestehen. Beides symbolisiert das, was immer gilt und keinem Verfalldatum unterliegt: die Basics, wie es heute heisst, eine gute Grundlage mit den elementaren Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens. Das betonte Roland Reichenbach in der SRF-Sendung dezidiert. Vielleicht etwas von der utopischen Einfachheit dessen, was Goethe «das alte Wahre» genannt hat – und das in der Praxis doch immer wieder neu und schwer zu realisieren ist: Die Konzentration auf das, was für junge Menschen und ihre Zukunft wichtig ist: ein festes Standbein, ein tragfähiges Fundament fürs weitere Lernen. «Get the fundamentals right, the rest will follow!» Auf die guten Grundlagen kommt es an.
1) Lukas Bärfuss, in: CH Media. Kulturbeilage, 08.06.2024, S. 5
2) Roland Reichenbach – Alte Schule oder neue Bildung?
3) Vgl. u.a. Martin Beglinger, «Das ist vernichtend.» Die Antworten der Bildungsforscher über die Wirkung der Schulreformen in der Schweiz sind ernüchternd, in: NZZ, 31.08.2018.
4) Die Schweizer Patenschaft für Berggemeinden unterstützt den Umbau der Schule finanziell. Er kostet 700’000 Franken; das entspricht 80 Prozent der jährlichen Steuereinnahmen der Gemeinde Loveresse.