Was unsere Bildungseliten nicht gerne hören:
Zwei selbstgemachte Gründe für die beunruhigenden Ergebnisse der letzten Bildungsstudien.
Eine Polemik von Gottfried Böhme
In den Artikeln, die über die neuste Pisa-Studie sowie über den Ländervergleich des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) berichten, werden als Ursachen für Deutschlands schlechtes Abschneiden bzw. das zunehmende Desinteresse am Fach Deutsch ganz schnell die Corona-Krise mit ihren Lock-Downs sowie der hohe Anteil an Migrantenkindern – besonders nach dem Beginn des Ukraine-Krieges – genannt. Diese beiden Gründe haben etwas gemeinsam: Man kann keinen deutschen Bildungsminister, keinen Bildungsforscher oder Didaktik-Professor für die Epidemie bzw. dem Krieg verantwortlich machen. Zweifellos spielen sie eine Rolle bei der Erklärung des zunehmenden Misserfolgs unserer Schüler. Aber es gibt noch andere Gründe – und die sind hausgemacht.
Der ganze Beitrag (15 S. als PDF): Matter (Shakespeare, Hamlet)
Generation Smartphone
Das erste Smartphone von Apple kam 2007 auf den Markt. Seitdem sind 16 Jahre vergangen. Die heute 16-jährigen waren es, die vor ein oder zwei Jahren für die vorliegende PISA-Studie Testfragen beantworteten. Sie sind die erste Generation, deren Leben das Smartphone von Anfang an begleitet. Wann welcher dieser Jugendlichen das mütterliche oder väterliche Smartphone mit benutzen durfte, wann er tatsächlich sein erstes eigenes Gerät besaß, das ist gar nicht entscheidend: währen sie befragt wurden, hatten sie fast alle bereits seit Jahren so ein Gadget. Als sie in die Schule kamen, durften sie erleben, dass eine Heerschar von Didaktikern und Politikern sich darüber Gedanken machten, wie man digitale Technik in der Schule zum Einsatz bringen kann. Zunehmend tauchten Whiteboards an den Wänden ihrer Klassenzimmer auf, ihr Schulhaus wurde verkabelt, um Router anzubringen, damit auch überall WLAN-Empfang möglich wird, und übereifrige Privatschulen sparten nicht bei der Anschaffung von Tablets. Der Zugang zum Internet wurde also aus den Kinder- in die Schulzimmer verstetigt und damit zur Normalität erklärt.
Somit erfahren wir in der neusten PISA-Studie etwas über die Lernerfolge der ersten Smartphone-Generation. Freilich gibt es schon seit einigen Jahren Initiativen, die die Durchsetzung unserer Bildungseinrichtungen mit digitalen Endgeräten mit großer Sorge betrachten – z.B. das Bündnis für Humane Bildung. Sollte sich das bewahrheiten, was inzwischen immer mehr Wissenschaftler befürchten – dass der Einzug elektronischer internetfähiger Geräte in Haushalte, Kinder- und Klassenzimmer sowohl die Entstehung von Suchtverhalten unter den jungen Menschen triggert als auch die Gehirnreifung empfindlich beeinträchtigt, was lebenslange Spätfolgen hervorruft, dann werden die PISA-Ergebnisse der folgenden Befragungsrunde mit hoher Wahrscheinlichkeit noch negativer ausfallen – die dann Getesteten haben mehrheitlich früher angefangen, viel Zeit mit Digitaltechnik zu verbringen, als die jetzt getestete Kohorte – und die Geräte bzw. Apps, die von den Jugendlichen heruntergeladen werden, sind verführerischer denn je. Man kann nicht behaupten, dass Deutschland diese Entwicklung aufgezwungen worden wäre – wie etwa die Corona-Krise. Nein, sie wurde billigend in Kauf genommen. Nein, dafür verantwortlich sind neben den zunehmend hilfloseren Eltern seine Bildungsexperten.
Inzwischen haben die ersten Staaten einen erneuten Schwenk vollzogen: Schweden, ein Land, das die Digitalisierung der Schule besonders forsch vorangetrieben hat, zieht die Reißleine und rehabilitiert das klassische Schulbuch, ähnliche Entwicklungen gibt es auch in manchen US-Staaten und z.B. in Portugal.
Die „motivationale Krise“
Ich muss, bevor ich den zweiten unterschätzten Grund für das schlechte Abschneiden deutscher Schüler beim PISA-Test speziell im Fach Deutsch nenne, einräumen, dass ich Deutsch-Lehrer am Gymnasium war und deshalb Realschüler und Grundschüler beiderlei Geschlechts nicht besonders gut kenne. Aber das Motivationsproblem, das ich hier zur Geltung bringen will, dürfte bei anderen Schularten als dem Gymnasium eher noch größer sein. Dass das Fach Deutsch besonders schlecht abschneidet, hat damit zu tun, dass sich hier die herrschende Didaktikschule viel massiver auswirkt als etwa in Chemie.
Beim zweiten viel zu wenig beachteten Grund für das schlechte Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler mindestens in den geisteswissenschaftlichen Fächern handelt es sich nämlich um den demotivierenden Beitrag der real existierenden Deutsch-Didaktik.
2002 wurde ich – warum auch immer – vom Bundespräsidenten Johannes Rau zu einer ziemlich hochkarätigen Bildungsrunde ins Schloss Bellevue geladen, gemeinsam mit solchen Koryphäen wie Donata Elschenbroich, Hartmut von Hentig, Jürgen Baumert usw. Ich hielt ein kurzes engagiertes Plädoyer dafür, dass man doch bitte über der Einführung von neuen Lernmethoden und Arbeitstechniken – die damals als der neuste Schrei der Didaktik hoch gehandelt wurden – nicht vernachlässigen möge, genau zu überlegen, welche Inhalte man im Unterricht behandelt. Im Fach Deutsch heißt das insbesondere, sehr genau darüber nachzudenken, welche literarischen Texte man liest. Oft sind das die einzigen, die ein junger Mensch über viele Jahre hinweg kennen lernt.
Mein Statement veranlasste Jürgen Baumert zu einer unvergesslichen kalten Erwiderung: Inhalte seien nur eine der „Stellschrauben“ im Lernprozess, „und nicht einmal die wichtigste“. Bis dahin hatte ich immer noch gedacht, dass die Vernachlässigung von Inhalten ein Versehen war, das Didaktikern unterlief, weil sie sich zu einseitig neuer, modischer Ideen angenommen hatten. Jetzt begann ich zu verstehen: dahinter steckt Prinzip.
Tonangebende Didaktiker und Bildungsforscher wie Baumert wiegen sich in der Illusion, sie könnten das Bildungsprogramm problemlos von einer Vereinbarung über Lerninhalte auf eine Vereinbarung über Kompetenzen umstellen. Die KMK betont bei jeder passenden Gelegenheit, dass ihre Mitglieder – in der Regel handelt es sich um die Bildungsminister der Länder – vereinbart hätten, nur noch kompetenzorientierte Bildungs- und Lehrpläne gelten zu lassen. Es scheint daher vonnöten zu sein, den Unterschied zwischen einer primär an Kompetenzen zu einer primär an Inhalten orientierten Didaktik klarer zu fassen, als das heute üblich ist.
Wenn ein Deutschlehrer seinen Schülern in erster Linie Kompetenzen beibringen will, reduziert sich für ihn die Bedeutung von Texten, an denen diese Kompetenzen eingeübt werden sollen. Das zugrunde gelegte Übungsmaterial hat vornehmlich dienende Funktion. Ausdrücklich fordern heutige Didaktiker, dass die Auswahl der Inhalte daran orientiert werden soll, ob sie sich besser oder schlechter dazu eignen, bestimmte Kompetenzen einzuüben.
Die bei der Einübung von Lesekompetenzen herangezogenen Texte werden damit letztlich austauschbar. Das Unterrichtsgeschehen wird nicht mehr davon bestimmt, was der Text bzw. sein Autor uns vermitteln will, sondern davon, ob er sich eignet, um z.B. Zusammenfassungen zu üben, präzises Lesen zu befördern oder den Unterschied von Tatsachen und Wertungen zu erkennen.
Genau nach diesem Schema sind die Aufgaben zur Lesekompetenz der PISA-Vergleichs-Studie konzipiert. Beim PISA-Test von 2018, bei dem es schwerpunktmäßig um Lesekompetenz ging, sollten die Probanden verschiedene Texte einer Wissenschaftlerin, die die Moai-Statuen der Osterinseln erforscht, gründlich lesen. Sieben Fragen- bzw. Aufgabenkomplexe sollten ermitteln, wie weit ihnen das gelungen ist.
Vermutlich hatte kaum einer der getesteten Schüler schon etwas von der Moai-Kultur gehört. Aber das machte überhaupt nichts. Er sollte ja nur unter Beweis stellen, dass er z.B. den Satz nicht überlesen hat, nach dem die berichtende Forscherin seit neun Monaten die Statuen erforschte, eine Tatsache, die in seinem künftigen Leben keine Rolle mehr spielen dürfte. Ähnlich belanglos dürften auch die sechs anderen korrekten Antworten für ihn sein, die er bei genauer Lektüre dem Text entnehmen konnte. (So suchten Forscher eine Erklärung für den Transport der sehr schweren Statuen, weil sie keine großen Bäume auf den Inseln vorfanden. Sie stellten eine Theorie auf, nach der vermutlich invasive Ratten die Samen der ursprünglich vorhandenen großen Bäume der Insel fraßen, deren gewaltige Stämme als Rollen für den Transport gedient haben dürften. Das sollte der Schüler ermitteln.) Ob die eigenartigen Informationen über eine eigenartige Kultur sein Weltbild erweitert haben – und wenn, dann wie –, ob er also etwas über die erstaunliche Kultur früherer Bewohner der Osterinseln gelernt hat, ist nicht Gegenstand des Tests. Schnell wird er ihn und seine für ihn bedeutungslosen Informationen vergessen haben.
Ganz anders verhält es sich, wenn Inhalte das sind, worauf es dem Lehrer ankommt. Deutsch, das facettenreichste Fach an unseren Schulen, hat für alle Fächer die Aufgabe übernommen, den Kindern das elementare Lesen beizubringen, in höheren Klassen ggf. auch einen guten Stil. Das hat durchaus etwas mit Kompetenzen zu tun. Aber das Fach erreicht seine eigentliche Bestimmung, wenn man aufgrund erlernter basaler Kompetenzen beginnt, unsere literarische Landschaft zu erkunden.
So wie der Chemielehrer sich darum bemüht, ein Gebäude aus Verbindungen und den Potentialen, die in diesen Verbindungen stecken, zu errichten, so errichtet der Literaturlehrer ein Gebäude von Ideen und sprachlichen Bildern, das natürlich auch ein Teil der Wirklichkeit ist, ohne den wir unsere Kultur nicht verstünden und sehr einsam wären. Und dies von Anfang an, denn vor dem Schreiben und Lesen können Kinder oft bereits singen. Mit Liedern tauchen sie gemeinsam in diese ganz eigene Welt ein.
Je älter die Schüler sind, um so weniger geht es in Deutsch um das Lesen- und Schreiben-Lernen. Inzwischen werden diese Kompetenzen ohnehin in anderen Fächern weiterentwickelt, etwa wenn Formelsprachen oder Noten gelernt werden. Das aber, was der Deutschlehrer speziell zur Persönlichkeitsbildung beitragen kann, das hängt maßgeblich von den Texten selber ab, die im Unterricht gelesen und diskutiert werden. Sie sind nicht beliebig austauschbar, wenn man nicht unterstellt, dass Persönlichkeitsbildung der reine Zufall sein soll. Der Unterricht wäre ein voller Misserfolg, wenn sich die Schüler nicht noch eine ganze Weile an den behandelten Text erinnern könnten, ob das nun ein Gedicht war oder ein Drama.
Um einem naheliegenden Einwand gleich zuvorzukommen: Nein, es gibt keinen in Zement gegossenen Kanon an Werken, die ein deutscher Abiturient gelesen haben sollte. Aber wenn er seine Zeit im 12- oder 13-jährigen Deutsch-Unterricht nur mit nach Kompetenzkriterien ausgewählten Texten zugebracht hat, dann war das nicht nur langweilig, er wurde um die reiche Kultur seiner Vorfahren betrogen – auch um die Kenntnis, wo diese sich auf furchtbare Abwege begeben haben. Er lernt die vitalen und die verdorbenen Wurzeln seiner Kultur nicht kennen.
Und genau so möchte ich von vornherein dem Argument begegnen, hier werde ein nationalistisches Literaturverständnis gepflegt. Im Gegenteil! Im heute üblichen Deutschunterricht kommen nahezu ausschließlich deutsche Texte zum Einsatz, wenn man mal von Sophokles oder Shakespeare absieht. Immer noch heißt das Fach bei uns Deutsch und nicht, wie es in den oberen Klassen heißen müsste: Literatur. Man stelle sich vor, so nationalistisch borniert würden etwa die baltischen Staaten denken. Oder die Schweiz. Kleinere Staaten werden schon von sich aus keinen rein national bestimmten Literaturkanon aufstellen. Nein, die Fokussierung auf Kompetenzen hat so ganz nebenbei verhindert, dass wir endlich der Tatsache Rechnung tragen, in einer globalisierten Welt oder wenigstens in einer Europäischen Union zu leben. Während unter Konrad Adenauer dafür gesorgt wurde, dass deutsche Schüler im Unterricht französische Kultur kennen lernten, haben es die Kompetenzdidaktiker nicht geschafft, dafür zu sorgen, dass die Kultur des zweiten großen Nachbarvolks, die der Polen, angemessen im Unterricht berücksichtigt wird.
Man frage mal einen deutschen Abiturienten nach polnischen Literaturnobelpreisträgern. Wie viele könnten diese Frage wohl beantworten? Hätte man nicht wenigstens dafür sorgen können, dass ein paar Gedichte der wunderbar lakonischen Wislawa Szymborska gelesen werden? Natürlich kann jeder Lehrer von sich aus da aktiv werden – und mancher Literaturbegeisterte wird das auch tun, aber wäre das nicht eine staatliche Rahmenaufgabe? Sieht so Völkerverständigung aus? Glauben die Ökonomen, die unsere Bildung durchstylen, im Ernst, es reiche, eine gemeinsame Währung auf den Weg zu bringen und den Schülern die Vorzüge des Euro zu verklickern? Auch hier: Versagen auf der ganzen Linie. Und der Grund ist immer derselbe: Kein staatliches Interesse an Inhalten. Also auch nicht an Kultur – vor allem, wenn sie nicht Wirtschaftsfaktor ist. (Kulturhauptstadt Europas wollen sie alle werden!) Trotz aller vollmundigen Behauptungen ist die kompetenzbasierte Bildungspolitik offensichtlich seit Jahrzehnten nicht in der Lage, eine inhaltlich bestens zu begründende Korrektur der Bildungspläne einzuleiten.
Ich merke, ich schreibe mich gerade in Rage. Deshalb gleich noch ein Kritikpunkt an der Inhaltsleere der herrschenden Bildungspolitik: Seit vielen Jahren leben Menschen aus dem Orient in Deutschland, ihr Anteil wächst stetig. Wieso hat keiner von der Fraktion, die sich so stark machen für Multikulti, einen Vorschlag gemacht, wie man orientalische Literatur in die Klassenzimmer bringt? Offensichtlich reduziert sich für viele Multikulturalismus darauf, dass man sich mit kulinarischen Köstlichkeiten des Orients den Bauch vollschlägt und folkloristische Tänze lernt (Vorsicht! Kulturelle Aneignung!).
Wieder handelt es sich um eine Inhaltsfrage. Wäre es so schwierig gewesen, dafür zu sorgen, dass mit guten Übersetzungen von Rumi oder Hafis, diesen großartigen persischen Lyrikern, ein wenig orientalische Kultur und damit kulturelle Identität dieser jungen Mitschüler und ihrer Familien aus der arabischen Welt gewürdigt wird? Ich bin kein Spezialist, aber mir fallen sofort auch moderne orientalische Autoren ein, von denen man wenigstens einen oder zwei in die Bildungspläne hätte aufnehmen müssen, wenn man sich zu einem multikulturellen Land erklärt. Manche schreiben sogar in deutscher Sprache – z.B. Navid Kermani. Oder soll der gemeinsame Nenner sein, dass gar keine Kultur mehr wichtig ist – weder die fremde, noch die eigene?
Eine Gesellschaft hat sehr wohl sehr genau zu überlegen, was eine angemessene Schullektüre ist. Dies übersieht die Kompetenzdidaktik. Schüler der 8. Klasse, also in dem Alter, in dem die PISA-Forscher ihre Lesekompetenz testen, sind schon längst mitten drin in dieser Sprach-, Ideen- und Bilderwelt. Ob wir sie dabei allein lassen oder bei der Erkundung dieser Welten begleiten, indem wir das ergänzen, vertiefen, vielleicht auch relativieren, was sie von sich aus zusammensammeln, das unterscheidet eine an der Persönlichkeit orientierte Pädagogik von einer schwarzen, der es nur auf die zukünftige Verwertung von „Humankapital“ ankommt – wie es sich Bildungsexperten wünschen, die allein in ökonomischen Kategorien denken.
Inzwischen gibt es durchaus manche Didaktiker, die erkennen, dass es im Fach Deutsch ein Motivationsproblem gibt. Uwe Ebbinghaus referiert in einem Artikel über die IQB-Studie ein Gespräch, das er mit der Frankfurter Literaturdidaktikerin Cornelia Rosebrock geführt hat (Notenschnitt Vier minus – Schüler verlieren das Interesse am Fach Deutsch, FAZ vom 01.12.23). In diesem Gespräch diagnostiziert die Didaktikerin, dass Neuntklässler in der Pubertät, wenn die gern gelesenen Bücher aus Kindertagen ihre Fragen nicht mehr beantworten, in eine „motivationale Krise“ gerieten. Das führt sie darauf zurück, dass im Unterricht kaum „zeitgemäße Lektüre“ behandelt werde.
Deutet sich hier endlich ein Wechsel der seit mehreren Jahrzehnten herrschenden Schuldidaktik an – speziell in den geisteswissenschaftlichen Fächern? Das wäre großartig. Entscheidend ist allerdings, ob der jeweils gewählte Text neue Weltbezüge eröffnet. Keineswegs wird das automatisch dadurch gewährleistet, dass ihm das Attribut „zeitgemäß“ angeheftet wird.
Eine weitere Frage bleibt bei Frau Rosebrocks Plädoyer für bessere Texte offen: Will sie nach wie vor diese primär nutzen, um Kompetenzen einzuüben – oder weil es ihr um die Inhalte dieser Texte geht?
Im ersten Fall gibt es ein Problem: Weder William Shakespeare noch Heinrich von Kleist, nicht Christian Morgenstern und auch nicht Ödön von Horvath, kein Daniel Kehlmann und auch kein/e Sasha Mariana Salzmann haben auch nur einen Vers gedichtet oder eine Zeile geschrieben, um die Lesekompetenz von Jugendlichen zu erhöhen.
Umgekehrt wird ein Schuh draus: Indem man sich mit qualitativ guten Texten auseinandersetzt, erhöht sich Zug um Zug mit dem wachsenden Verständnis für sie auch die Lesekompetenz. Bloß dass man diesen Effekt jetzt erzielt, indem man sich mit Texten beschäftigt, die neue Einsichten eröffnen, geheimnisvoll wirken, Interesse hervorrufen, kurz: motivieren. Wer viel liest, liest früher oder später besser als der Wenig- oder Kaumleser. Und viel wird nur der Jugendliche lesen, der entdeckt, dass Lesen ihm Welten eröffnen kann. Oder der einen Lehrer hat, der ihm zeigt, wie man schwierige Lektüre aufschließt. Weil der ein Gespür dafür hat, was an Shakespeare junge Menschen interessieren könnte.
Wer sich das gründliche Nachdenken nicht erspart, welche Texte wegen welches Inhalts in den Deutsch-Unterricht hineingehören, dessen Schüler haben am Ende doppelt gewonnen: Sie interessieren sich nun wieder stärker für das Fach, können dafür gewonnen werden, mehr zu lesen – und eignen sich nebenbei auch noch die gefragten Kompetenzen an, deren mangelhafte Beherrschung in gleicher Weise Handwerkskammerpräsidenten, BDI-Funktionäre und Politiker umtreibt. Es wäre schon gut, wenn sich diese ökonomisch orientierten Fachleute mal den Unterschied zwischen einer völlig untauglichen Kompetenzdidaktik und einer Inhaltsdidaktik erklären lassen würden. Sie meinen natürlich als Nicht-Fachleute, man könne die gegenwärtigen Defizite dadurch beheben, dass man alle Ranken des Deutsch-Unterrichts abschneidet und sich auf die Einübung von nüchternen Kompetenzen konzentriert. Wenn sie aber verstünden, dass das keine erfolgversprechende Strategie ist, weil sie die Motivationslage der Jugendlichen sträflich vernachlässigt, würden sie vielleicht anfangen, sich über inhaltsleere Deutschstunden zu ärgern.
Wenn Shakespeare zwei Verliebte nach der ersten gemeinsam verbrachten Nacht darüber spekulieren lässt, ob es die Nachtigall oder die Lerche ist, deren Lied draußen erklingt, dann stellt er auf äußerst anschauliche, zeitlose Weise dar, wie sich die Welt anfühlt, wenn man eben verliebt ist. Er hielt dies offensichtlich für mitteilenswert – und nicht nur die Briten lieben ihn dafür. Das nachzuvollziehen, sich daran zu freuen, ist aber nicht das Ziel der heutigen Literatur-Didaktik. Vielmehr soll der Schüler bei Lehrern, die sich der Kompetenz-Didaktik verschrieben haben, anhand des gewählten Stoffes nur etwas wesentlich Profaneres lernen: genau zu lesen, Gelesenes zusammenzufassen, Epochenmerkmale zu identifizieren usw. Es geht nicht darum, das in sich nachklingen zu lassen, was Shakespeare da imaginiert hat, es geht darum, dass eine Schülerin z.B. Konstituenten dieses – oder eines beliebigen anderen Textes – identifizieren kann. Aber wozu? wird sich diese Schülerin fragen, die immerhin 15 ist und, wir wünschen es ihr, schon mal verliebt war. Heißt Lesen nicht, in eine fremde Welt einzutreten und dabei Entdeckungen zu machen? Oder für die eigenen verschwommenen Gefühle eine Sprache zu finden? Ist nicht die Erweiterung der Wirklichkeit durch Sprache der Sinn des Literaturunterrichts? Ging es jedem Literaten, der diese Bezeichnung verdient, nicht immer nur genau darum?
Verordnete Langeweile
Wenn das, was das Neue, Einmalige und Sensible eines Textes ausmacht, nicht im Mittelpunkt des Unterrichts steht, ist der langweilig. Der Unterschied zwischen einer Kompetenz- und einer Inhalts-Didaktik könnte also auch so gefasst werden: der Inhaltsdidaktiker weiß um die Bedeutung jedes einzelnen Kunstwerks (Gedichts, Dramas, Romans), für den Kompetenzdidaktiker sind dies immer nur Übungsmaterialien.
Schüler sind, gerade in der Pubertät, äußerst empfindlich gegenüber allen Formen von Heuchelei. Geht es dem in „moderner“ Didaktik geschulten Lehrer erkennbar gar nicht um das Leseerlebnis, um die Erweiterung des Horizonts, um den Aufbruch in neue geistige Welten, sondern stattdessen letztlich um die Einübung von diversen Kompetenzen, dann spüren sie, dass dem erwachsenen Menschen vorn am Pult der Inhalt selber gar nicht wichtig ist. Aber wenn selbst sein Lehrer sich nicht für den Text interessiert – warum sollte der Schüler das dann tun? Und wozu trainiert er Kompetenzen an so einem Text – wenn der seinen geistigen Horizont nicht erweitert, so dass also bestenfalls aus einem unstrukturierten langweiligen Text ein strukturierter langweiliger Text wird?
Wer Kompetenzen einübt, der macht dies nicht, um Erkenntnisse zu erzielen, sondern um später einmal aufgrund der jetzt eingeübten Kompetenzen in erster Linie berufliche Erfolge zu erzielen. Es gibt also einen Hiatus zwischen den Mühen des Lernens und den Vorteilen, die man damit möglicherweise eines Tages davon haben könnte.
Man ahnt schon, was für ein Schülertyp sich diesen Mühen eher unterwirft. Er ist häufiger weiblich, weil Schülerinnen in der Regel ehrgeiziger und eher davon zu überzeugen sind, dass sich Lernen lohnt. Genauso werden eher solche Schüler, die in ihrer Umgebung Menschen kennen, die aufgrund ihrer Lernbereitschaft Erfolge im Leben erzielt haben, sich solche langweiligen Übungen zumuten. Man wird diesen Typus eher am Gymnasium finden, aber auch da weniger in einem Alter, in dem Jugendliche gerade die Höhepunkte ihrer Pubertät ausleben. Schülerinnen und Schüler interessieren sich nahezu ausschließlich für Inhalte. Sie sind, wenn sie ein NC-Fach studieren wollen, immerhin dazu bereit, auch Kompetenzen einzuüben und ihre Beherrschung in Prüfungen unter Beweis zu stellen. Aber nicht aus Überzeugung und ohne innere Anteilnahme.
Genau das ist beim inhaltsorientierten Lernen anders – zumindest wenn Lehrer das Talent haben, die Texte zu finden, die die Schüler tatsächlich interessieren. Diese Texte gibt es, es gab sie immer, aber seit sich der Diskurs über zeitgemäßen Unterricht einseitig auf Kompetenzerwerb verlagert hat, werden die Lehrer, denen Texte nach wie vor wichtig sind, bei der Auswahl ziemlich alleingelassen. Ein Diskurs über den Lesekanon, wie er vor etwa drei bis vier Jahrzehnten die Republik erregt hat, findet längst nicht mehr statt. Da die Öffentlichkeit kaum noch hinsieht, was eigentlich die Kultusbehörden für Themen benennen, die in den letzten beiden Klassenstufen gelesen werden sollen, drängen sich sofort selektive Interessen vor.
Hier in Sachsen ist das beispielsweise ausgerechnet Kafkas Text In der Strafkolonie, ein Text, in dem sich ein Häftling selber zu Tode foltert. Und der Roman Juli Zehs Corpus Delicti über Gesundheitsüberwachung, der natürlich sehr zeitgemäß wirkt, literarisch aber wenig zu bieten hat, schon weil seine Figuren holzschnittartig konstruiert erscheinen. Keine Überraschung, dass es Medea in die Schwerpunktthemen geschafft hat. Immerhin ein alter Mythos, der uns eine Frau vorführt, die ihre beiden Kinder ermordet, weil sie sich von ihrem untreu gewordenen Lover missbraucht fühlt, dem zuliebe sie ihre familiären Bande geopfert hat. Der Kindermord scheint ihr die adäquate Antwort auf die Gemeinheiten Jasons. Kein Wunder, dass dieser Stoff dann von Christa Wolf auf den Kopf gestellt wird. Die Feministen werden zufrieden sein, aber ob sich heutige Schülerinnen da irgendwo im ideologischen Grabenkampf wiederfinden, wage ich doch zu bezweifeln. Ebenso wenig werden sie sich mit einem Sträfling identifizieren, der sich zu Tode tätowiert – trotz aller Tatoos, die sie inzwischen auf ihrer Haut verteilen. Die Auswahl wirkt reichlich verquält, riecht nach einem Kompromiss zwischen Feministinnen, Bildungsfunktionären , die sich an großen Namen orientieren und Zeitgeistern. Solche Texte repräsentieren also nach Ansicht von Dresdens Kultusbehörden die deutsche Literatur. Nichts gegen Kafka, Wolf oder Zeh, alle drei haben auf ihre Weise die deutsche Literatur bereichert. Aber gerade diese Texte?? Freilich: öffentlich hat sich da niemand erregt. Es geht ja nur um Inhalte.
Als ich Referendar war, zeigte uns Dietrich Steinbach im Studienseminar Esslingen, wie man so einen tatsächlich kanonischen Text wie Schillers Wallenstein oder Goethes Faust raffiniert für den Unterricht aufbereiten kann. Steinbach wollte wie jeder Literaturbegeisterte, dass die Schüler Zugang nicht nur zu zeitgeistigen, sondern auch zu zentralen alten Texten finden. Mein Verständnis von Deutsch-Didaktik wurde an solchen komplexen Stoffen geschult. Von Kompetenzen war damals nicht die Rede. Stattdessen von der „kriminellen Energie“ des böhmischen Feldherrn oder von der rezeptionsgeschichtlichen Wirkung des Schlussmonologs von Faust bis hinein in Reden Walter Ulbrichts. Selbst wir Referendare, die wir während der Studentenbewegung eher auf Distanz zur deutschen Klassik gegangen waren, begannen die Dramen neugierig genauer zu lesen – und das färbte auf etliche Schüler ab.
Einer der Hebel für die Behandlung bestimmter literarischer Werke bestand darin, dass das baden-württembergische Kultusministerium so genannte Sternchenthemen benannte, von denen eines in einer Abituraufgabe genutzt werden würde. Selbstverständlich sicherten die Kultusbehörden durch zahlreiche Fortbildungen ab, dass diese Themen inhaltlich-didaktisch aufbereitet wurden. Das waren sehr begehrte Veranstaltungen. Ich erfuhr dort viel über Joseph Roths Hiob und Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob. Damit ließen sich spannende Stunden gestalten. Das meine ich, wenn ich von Inhaltsdidaktik spreche.
Mutig geworden durch die ersten Erfolge, die sich an Ideen Steinbachs anlehnten, versuchte ich mich selber später an anspruchsvollen Projekten – z.B. an eine Textauswahl aus Thomas Manns Doktor Faustus oder aus Hermann Brochs Tod des Vergil. Ich hatte als junger Lehrer noch die verwegene Illusion, dass es Aufgabe des Deutschunterrichts sei, das abzubilden, was große deutsche (und durchaus auch ausländische) Dichter uns hinterlassen haben – einfach damit die Kenntnis über unsere Kultur nicht abreißt. Georg Trakls Gedichte erarbeitete ich, indem ich Fühmanns großartigen Essay Der Sturz des Engels bzw. Vor Feuerschlünden zugrunde legte, und einige Passagen aus Robert Musils Mann ohne Eigenschaften führten meinen Schülern Beispiele tagheller Naturmystik vor. Langeweile kam da nicht auf – und Deutsch war damals eines der beliebtesten Fächer, weil etliche meiner Kollegen ähnlich ambitioniert an ihre Unterrichtsvorbereitung herangingen wie ich.
Keineswegs ging es nur um die höheren Jahrgangstufen. Mit der Fühmann‘schen Übertragung des Nibelungenlieds in unsere Sprachwelt wurde ein sehr alter Text den Siebtklässlern nahegebracht – denn die interessieren sich sehr wohl für Eifersucht, Männerfreundschaften, die mörderische Dynamik eines eskalierenden Krieges, Treue und Verrat. Freilich lasen meine Schüler auch gerne Wolfgang Herrndorfers Tschick – eines der wenigen guten Bücher, die es häufiger in den Unterricht geschafft haben und hoffentlich nicht nur zum Einüben von Kompetenzen verheizt wurden.
Die Didaktiker in den Studienseminaren zeigen heute, wenn ich den Berichten von Referendaren trauen darf, eher selten, wie man solche Texte findet und nutzt, weil sie solche Suche für nebensächlich halten. Deshalb wirkt der Feed der im Unterricht gelesenen Texte so willkürlich. Eine übergreifende Konzeption ist da nicht zu erkennen.
Oder doch? Die Idee für PISA-Vergleichs-Studien wie auch die Umlenkung von Bildung auf Kompetenzerwerb lässt sich zurückverfolgen auf eine Tagung der OECD in New York im Jahr 1961. Auf ihr beschlossen die Vertreter der entwickelten Länder, Bildung in Zukunft in einen engeren Zusammenhang mit ökonomischer Entwicklung zu bringen. Schulen sollten als Stätten verstanden werden, an denen die nachwachsende Generation primär die allgemeinen für ihr späteres Berufsleben wichtigen Kompetenzen erwirbt. Und zwar möglichst schnörkellos, ohne auf nationale Bildungstraditionen Rücksicht zu nehmen, die Bildungsökonomen als Hemmschuh ausgemacht hatten. Weg mit ihnen! Wenige Jahre später war der Hebel gefunden, der die einzelnen Staaten auf Linie brachte: die Pisa-Vergleichsstudien, die strikt nur noch Kompetenzniveaus miteinander verglichen.
Ja, wenn man den Menschen als homo oeconomicus oder als homo faber interpretiert, dann erscheint das ganz logisch. Aber wohin uns diese Definition führt, das können wir heute überall auf der Welt sehen. Früher las man gerne Max Frischs Roman mit dem bezeichnenden Titel Homo Faber im Deutschunterricht. Ein Lehrer, der ihn behandelte, der wollte etwas über den Ödipus-Mythos, Antisemitismus oder den Schicksalsbegriff vermitteln. Aber auch über den tragischen Irrtum des modernen Menschen, sein Leben wie ein Ingenieur planen zu können. Angesichts der Weltlage immer noch ein lesenswertes Buch. Jetzt, wenige Jahrzehnte später, hat die Kompetenzdidaktik auf breiter Front gesiegt und mit ihr das Menschenbild des homo faber.
Referendare bestätigen, dass ihnen heute in der Regel abverlangt wird, in jeder Lehrprobe nachzuweisen, dass ihr Stundenkonzept kompetenzbasiert ist. Eine Unterrichtseinheit wird nur dann als gut oder sehr gut bewertet, wenn in ihr Zeit in das nackte Einüben von Medien-, Lese- und sonstigen Kompetenzen investiert worden ist.
Und nun zeigt sich also, was diese kulturrevolutionäre Veränderung für Konsequenzen hat: Die Schüler langweilen sich. Gerade die weniger ehrgeizigen unter ihnen, oft sind es die kreativeren, wissen nicht, warum sie die Mühen auf sich nehmen sollen, die man in Kauf nehmen muss, wenn man Lesekompetenzen entwickeln will. Nur wegen der Noten? Rein sekundärmotiviert? Eine Didaktik, die Inhalte für eine sekundäre Stellschraube hält – es ist wie gesagt die herrschende – führt dazu, dass etliche Schüler und Schülerinnen nach abgelegtem Abitur nie wieder ein Gedicht lesen oder nie wieder einen literarischen Roman in die Hand nehmen wollen. Diese Didaktik zerstört nachhaltig nicht nur unsere Lesekultur, sondern unsere Kultur überhaupt. Freilich haben kulturlose Gesellschaften noch nie auf Dauer stabile wirtschaftliche Verhältnisse hervorgebracht. Es ist eben keine besonders schlaue Idee, Ökonomen Bildungskonzepte schreiben zu lassen.
Der Niedergang des Faches Deutsch, der laut IQB-Studie dazu geführt hat, dass 44 % aller befragten Schüler angeben, sie hätten nur geringes Interesse am Fach Deutsch, könnte in der Tat mit einer Motivationskrise zusammenhängen. Allerdings handelt es sich nicht um eine “motivationale Krise“ der Schüler, sondern um eine der Kompetenzdidaktiker selber.
Das Fach ist offensichtlich gründlich heruntergewirtschaftet. Dass es immer noch Schüler gibt, die es schätzen, dürfte maßgeblich damit zusammenhängen, dass sich viele Tausend engagierte Deutsch-Lehrer, die es nach wie vor gibt, nicht auf einen reinen Kompetenz-Unterricht haben verpflichten lassen, sondern ihre Liebe zur Literatur vermitteln. Gedankt haben ihnen dies kaum die herrschenden Didaktik-Experten, aber die Schülerinnen und Schüler, denen sie Welten erschlossen haben. Ganz nebenbei ist ihnen oft besser als ihren Kollegen gelungen, auch das zu vermitteln, was den OECD-Bildungsplanern so wichtig ist: Kompetenz. Sozusagen als Abfallprodukt. Weil sie Schüler zum Lesen motivieren konnten.
Wenn jetzt der Druck auf die unbeirrten Literaturfreunde erhöht wird, weil die Öffentlichkeit auf die nackten Lesekompetenzergebnisse starrt wie das Kaninchen auf die Schlange, wird das Gegenteil von dem erreicht werden, was unsere Bildungsstrategen seit Jahren versprechen: Das Ansehen des Faches wird weiter leiden, die Lust am Lesen wird weiter abnehmen und deshalb wird auch das Einüben der so begehrten Kompetenzen noch offensichtlicher scheitern.
Was den Zögling Törleß verwirrt
Es gibt in der deutschen Literatur eine Erzählung, die dem nachgeht, was passiert, wenn man Jugendliche mit ihren Fragen allein lässt: Das ist Robert Musils Erzählung Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Ausgerechnet im Mathematikunterricht brechen für den jungen Törleß existentielle Fragen auf. Wieso darf man das Imaginäre in den Formeln der ansonsten doch völlig exakten Mathematik verwenden? Was ist das Unendliche? Als er einmal auf einer Wiese liegt und sich über ihm in einer Wolkenlücke der blaue Himmel zeigt, überfällt ihn ein ehrfürchtiges Gefühl, weil er den Eindruck hat, gerade ins Unendliche zu blicken.
Törleß ontologisiert mathematische Konstrukte wie die Unendlichkeit oder das Imaginäre. Aber das weiß er natürlich nicht. Der Versuch, sich mit seinem Mathematiklehrer über seine Irritationen zu unterhalten, scheitert grandios am Unverständnis dieses ehrgeizigen „Professors“, der ihn auf später vertröstet. Nur wenn man schon ein paar Semester Mathematik studiert habe, könne man allmählich verstehen, worum es in der Mathematik wirklich gehe. Törleß sei für solche Fragen einfach noch zu jung. Der Lehrer verweist also ganz ähnlich wie heutige Kompetenzdidaktiker auf ein Später, wo sich der Preis für die Mühen schon einstellen werde.
Musil wird zum Analytiker seiner Generation, wenn er in einer Passage, die kurz nach dem Gespräch zwischen Törleß und seinem Mathematiklehrer im Text auftaucht, ausführt: „Dieses schiefe Verhältnis zu Philosophie und Literatur hatte später auf Törleß‘ weitere Entwicklung jenen unglücklichen Einfluß ausgeübt, dem er manche traurige Stunde zu danken hatte. Denn sein Ehrgeiz wurde hiedurch von seinen eigentlichen Gegenständen abgedrängt und geriet – während er, seines Zieles beraubt, nach einem neuen suchte – unter den brutalen und entschlossenen Einfluß seiner Gefährten. Seine Neigungen kehrten nur noch gelegentlich und verschämt zurück und hinterließen jedesmal das Bewußtsein, etwas Unnützes und Lächerliches getan zu haben.“ Törleß, der das Zeug dazu gehabt hätte, ein konstruktiver und nachdenklicher Gestalter der Wirklichkeit zu werden, bekommt noch gerade so die Kurve, um nicht zu einem Kriminellen zu werden, aber er wird zu einem Menschen, der es lächerlich findet, grundsätzliche Fragen zu stellen – weil er damit einmal auf schlimme Abwege geraten ist.
Die Gefährten, die der Erzähler hier meint, spekulieren selber gerne über existenzielle Fragen. Ihre Gespräche entwickeln sich jedoch in eine menschenverachtende Richtung: Als sie zufällig entdecken, dass einer ihrer Mitzöglinge seine Kameraden beklaut, beschließen sie, die Sache selber zu verfolgen. Sie zitieren den Dieb auf den Dachboden des Internats, wo sie sich heimlich eine „rote Kammer“ eingerichtet haben. Dort demütigen sie diesen Basini, zwei von ihnen missbrauchen ihn sexuell, und sie beginnen sogar, abstruse Menschenexperimente mit ihm anzustellen. Ein prophetischer Text über die Folgen des Versagens der Bildungseinrichtungen seiner Zeit. Sehr zu Recht haben Literaturwissenschaftler diese Erzählung als ein Kabinettsstück für die Entstehung einer faschistischen Moral interpretiert.
Heute werden Jugendliche mit anderen menschenverachtenden Theorien als um das Jahr 1900 herum geködert. Die verwegenen Theorien, die im Internet herumspuken, zeigen, dass die Anzahl zumindest der virtuellen Gefährten, die junge Menschen auf Abwege bringen können, enorm gewachsen ist. Sie versuchen längst unsere Demokratie zu untergraben. Ich frage mich, ob die behördlich verordnete Langeweile beim Einüben von Kompetenzen nicht genau die Bedingungen reproduziert, die Musil für die Entstehung von krimineller Energie verantwortlich gemacht hat. Es geht also nicht nur darum, den Deutsch-Unterricht wieder interessant zu machen, damit der Kompetenzerwerb endlich wieder günstigere Rahmenbedingungen bekommt. Dringend wird ein Unterricht gebraucht, der sich den geistigen Herausforderungen unserer Zeit stellt und alles mobilisiert, was in unserer Kultur dazu längst gesagt wurde, manchmal schon vor Jahrhunderten.
Die meisten Kommentare zu den Defiziten unserer Bildungseinrichtungen konzentrieren sich auf dringend notwendige Veränderungen im Bereich der Berufsschulen, der Grundschulen oder gar der Kindergärten. Das, was ich eben über die Defizite der Bildung um 1900 formuliert habe, betrifft aber in besonderer Weise das andere Ende der Schulbiographien. Die Vernachlässigung dieses Segments führt dazu, dass Menschen, die später aufgrund ihrer Abschlüsse häufiger in Leitungspositionen gelangen werden, allein gelassen werden mit all den geistigen Verführungen, die eine aggressive Internetwelt ihnen ständig vor die Füße kippt. Und deshalb häufig das moralische Rückgrat nicht entwickeln, das man von Menschen in Machtpositionen eigentlich erwarten sollte.
Aufgrund der disziplinierenden Wirkung der Pisa-Studien ist dies heute ein weltweites Phänomen. In allen entwickelten Ländern reagiert die Öffentlichkeit sensibel auf die Ergebnisse der Studie, und die Politik passt folgsam ihre Bildungskonzepte an das Kompetenzraster an, um in Zukunft besser abzuschneiden. Pisa-Kriterien geben weltweit die Rückmeldung, wie gut ein Bildungssystem angeblich ist.
Parallel dazu sehen wir, dass die Hälfte einer urdemokratischen Nation sich zu Trumpisten entwickelt. Ganz zu schweigen von den vielen kleineren Ländern, in denen Populisten Zulauf haben. Sollte das wirklich nichts mit den Bildungskonzepten zu tun haben, die in diesen Ländern gesetzt sind – letztlich von einer OECD, die Kompetenzen zum A und O des Bildungsprogramms bei aggressiver Vernachlässigung von Bildungsinhalten gemacht hat??
Was tun?
Die zwei hier genannten Gründe – die allgegenwärtige Anwesenheit von Smartphones wie auch die demotivierende Kompetenzdidaktik – dürften langfristig viel entscheidender für das schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei den letzten Vergleichsstudien sein als der Corona-bedingte Lockdown bzw. die durch Putins Krieg bedingte Fluchtbewegung von Müttern mit ihren Kindern, die hier beschult werden müssen. Wer die Kontinuität der Smartphone-Verführungen auch noch institutionell befördert, wer Inhalte zu sekundären Stellschrauben degradiert, der ist hingegen sehr wohl verantwortlich für das Abrutschen deutscher Schüler bei internationalen Tests. Und wenn es nur dabei bliebe, dann können wir noch dankbar sein. Denn die schwierigen Probleme unserer Weltgesellschaft müssen mit der nächsten Generation auf elementare Weise genau so inhaltlich durchgearbeitet werden wie alles, was dem Menschen Aufschluss über seine Existenz bzw. seine Stellung im Kosmos gibt. Erst dann kommen Kompetenzen zu Einsatz, die dazu beitragen könnten, dass die Resultate solcher intellektuellen Bemühungen hier und da wirksam werden.
Die meisten derjenigen, die unter der Kompetenzdidaktik leiden, kommen gar nicht auf den Gedanken, dass ihr Unbehagen nicht daran liegt, dass sie selber ein Defizit haben, sondern zu nicht unerheblichen Anteilen auf eine verfehlte Bildungspolitik zurückzuführen ist.
Woher sollte die Dresdner Schülerin auch wissen, dass deutsche Literatur viel reicher ist, als das die vorgeschriebenen Texte suggerieren? Wird der afghanische Flüchtling den Mut haben, zu fragen, ob man nicht mal einen persischen Dichter (etliche der literarischen Heroen Persiens lebten in seinem Heimatland) behandeln darf, damit etwas von dem, was die Kultur seiner Heimat prägte, im gemeinsamen Unterricht vorkommt? Der Jugendliche, der im östlichen Frankfurt lebt und schon oft über die Oder ins Nachbarland gezogen ist – muss der ganz von selber den Zugang zu den großen Dichtern dieses Landes finden? Die Eltern, die sich wundern, dass ihre Kinder so geringes Interesse am Lesen haben, der Lehrer, der seine Liebe zu Lessing oder Else Lasker-Schüler, zu Benn, Rilke oder Bertolt Brecht manchmal schon mit schlechtem Gewissen weitergibt, weil er in der Zeit keine Kommaregeln geübt hat, die Literaturdidaktikerin, der schwant, dass die Kompetenzdidaktik ein Motivationsproblem heraufbeschworen hat – all diesen durch eine verfehlte Bildungspolitik Belasteten möchte man zurufen: Lasst euch nicht weiter verunsichern! Nicht die Bildungseliten, sondern ihr seid auf dem richtigen Weg. Ihr werdet gebraucht, weil sich die dafür bezahlten Fachkräfte einer inhaltlichen Debatte über das, was ein 16- oder 18-jähiger wissen müsste, ignorant entziehen.
Ja, als es darum ging, das Weltwissen der Siebenjährigen zu bestimmen, war das Publikum fasziniert. Das Weltwissen der 18-jährigen interessiert von denen, die die Aufgabe hätten, es in dieser Generation zum Leben zu erwecken, herzlich wenige. Von dem großen aufklärerischen europäischen Projekt der Bildung für jedermann ist nicht mehr viel übrig, wenn es nur noch um Kompetenzen geht. Gleichzeitig haben sinistre Kräfte begonnen, die Lücken zu füllen, die eine defizitäre Bildungspolitik aufgerissen hat: die Akteure des Internets. Eine explosive Schieflage.
Ist es bereits zu spät? Ich hoffe nicht. Das erste muss sein, eine Debatte anzuzetteln, in der wieder über Inhalte gestritten wird. Sollten wir nicht gemeinsam das Verhältnis von Kompetenz und Inhalt zurechtrücken, damit Kompetenzen wieder die dienende Funktion bekommen, Inhalte zu etablieren, und nicht umgekehrt? Sollten wir uns nicht gemeinsam darauf konzentrieren, den beträchtlichen Rückstau an Inhaltsthemen abzuarbeiten, den eine Bildungselite aufgetürmt hat, weil sie in ihrer Kompetenzverliebtheit sträflich das vernachlässigt hat, was den Kern von Bildung immer ausmachen wird: der nächsten Generation die Problemlage einer komplexen Welt zu vermitteln und ihr möglichst viele zukunftsrelevante Ideen ihrer Vorfahren zugänglich zu machen?
Mit Shakespeares Hamlet rufe ich laut: More matter!
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