Für die Authentizität des Singulären statt medialem Overkill
Für die Authentizität des Singulären statt medialem Overkill, in Media Soundscapes II: Didaktik, Design, Dialog. Beide Bände erscheinen in der Schriftenreihe „Massenmedien und Kommunikation“ (MUK) der GHS Siegen (2007)
Multi-Media:
- Medienproduktionen, bei denen im Gegensatz zu Monomedien oder dualen Medien mehr als zwei der sechs Medienbausteine (Text, Grafik, Realbild (= Fotografie), Klang, reales Bewegtbild (= Film), künstliches Bewegtbild (= Animation)) eingesetzt werden.
- Multimedial sind z.B. Fernsehsendungen mit audiovisuellen Teilen, integrierten Standbildern und Animationen wie Tagesschau, Telekolleg und wissenschaftliche Sendungen. Im Gegensatz zu interaktiven Medien ist der Nutzer bei multimedialen Angeboten i.d.R. passiv.
Medienmatsch:
- a) Kombination der Medienbausteine aufgrund technischer Möglichkeiten anstatt inhaltlicher und/oder ästhetischer Notwendigkeit;
- b) Kombination von schlecht entwickelten Medienbausteinen, die durch die Addition die mangelnde Qualität der einzelnen Elemente überdecken soll;
- c) Instrument einer gezielten Verstopfung der Sinneskanäle zwecks Manipulation und Steuerung großer Teile der Bevölkerung.
Viele Multimedia-Produktionen sind Paradebeispiele für „Medienmatsch“. Einfliegende Logos auf Websites, sinnfreie Shockwave- und Flash-Intros, funktionslose Animationen, die nur die Aufmerksamkeit ablenken, am besten noch mit beliebigen „Sound-Loops“ und „easy-listening“-Klangmüll hinterlegt, um auch den auditiven Kanal zu belegen: das sind eher Karikaturen multimedialer Anwendungen denn sinnvolle Beispiele. Es ist die alltägliche Praxis und gilt für TV-Sendungen gleichermaßen. Zwischen animiertem Werbeclip („Das Wetter wird Ihnen präsentiert von…“) und dem öffentlich-rechtlichem Sprecher vor animierter Wetterkarte und Textüberblendungen sind es nur noch Nuancen. Es wird aus allen Rohren geschossen, was die Technik hergibt…
Das nenne ich Medienmatsch und übersetze Multi-Media damit anders als Medieneuphoriker und Digitaljünger. Die Gleichsetzung der Begriffe mag provozierend klingen. Verbinden sich doch umgangssprachlich mit dem „Multimedialen“ die neuen, die digitalen Techniken, das ganze Spektrum an neuen Kanälen, Diensten, Funktionen und zukunftsträchtigen Entwicklungen. Leben wir doch in einer Medien-, einer multimedialen Gesellschaft und nur Rückwärtsgewandte polemisieren gegen die Durchdringung der medialen Welt durch neue Technologien. Das ist vermutlich die gleiche Klientel, die zwischen (schon lange nicht mehr nur privatem) Dudelfunk und dem favorisierten Sprechfunk unterscheidet, für die „Klassik-Radio“ bereits ein Schimpfwort ist (Patchwork aus Soundschnipseln ohne Kontext), die große Teile (des nicht mehr nur privaten) Fernsehprogramms als „Unterschichtenfernsehen für die drei „A“: Alte, Arme, Arbeitslose“ abqualifiziert und generell über den Verfall der Kultur klagt.
Semantic Turn
Dabei gelte es doch umzudenken. Die Leitmetapher, nach dem (schon vergessenen?) „semantic turn“, ist heuer der „iconic turn“. Ursprünglich gedacht als Begriff für eine „Bildwissenschaft“ in der Tradition des Kunsthistorikers Aby Warburg sieht man sich heute einer andern Auslegung des Begriffs gegenüber: Bilder und Bildmedien, insbesondere audiovisuelle Bildwelten, gelten als Leitmedien des 20. und 21. Jh. Der Bildanteil der Zeitungen und Zeitschriften wird beständig größer, bis hin zu Publikationen, die (fast) ganz ohne Text auszukommen glauben. Dafür werden die Formate kleiner (das sogenannte „tabloid“- Format, (hand-)taschengerecht und schon aus Platzgründen textarm). Schulbuchverlage instruieren ihre Autoren, stärker mit Grafiken und Bildern zu arbeiten und zu „visualisieren“.
Bei digitalen Medien bietet es sich geradezu an, neben statischen Bildern und Grafiken auch gleich das Bewegtbild und die Animation zu integrieren, nicht zu vergessen ein „Sound“ (statt Klang), um den Nutzern ein möglichst komplettes, mediales „Erlebnis“ zu sichern. Nur das Web ist ein Sorgenkind, da über weite Strecken textlastig, aber mit entsprechenden PlugIns, mit Flash, Video-Streaming und Internet-TV wird die Textdominanz schon zu überwinden sein zugunsten des digitalen Show-Biz: Schließen wir die letzten Lücken… Schließlich ist die Konkurrenz groß und nur, wer die Erwartungshaltung befriedigt, kann Kunden binden etc… Man kennt die Argumentation, man kennt vor allem das Ergebnis in Radio, Fernsehen und
Internet.
Medienmatsch oder wahlweise: Medienmüll.
Das war nie anders, mag man einwenden und z.B. anführen, dass auch bei Erfindung des Buchdrucks der Großteil der Drucksachen nicht die Bibel und andere Bücher, sondern Bilderbögen, Spielkarten und Werbeblätter fürs Volk waren, billiges Zeug für Unterhaltung und Zeitvertreib. „Bücher für den Adel und Klerus, Bilderbögen und Andachtsbildchen fürs Volk“. Das ist im Kern die gleiche soziale Differenzierung und Selektion, die bis heute gilt. Sprachkompetenz und Lesefähigkeit entscheiden über sozialen Status, Bildungschancen und Integrationsfähigkeit. Knapp formuliert heißt das: Fern-Sehen muss niemand lernen, der Weg in die Apathie ist kinderleicht. Apropos kinderleicht: Betrachtet man den Weg der „Weltaneignung“ von Kindern, steht nach den direkten Kommunikationsmitteln (Mimik, Gestik, Sprache) das Malen und Zeichnen, vor dem
Schreiben. Bilder und Zeichen konstituieren „Welt“, die ersten Bilder- und Vorlesebücher kommen vor den Lesebüchern. Mit zunehmendem Alter wird der Bildanteil geringer, der Textumfang nimmt zu – bis hin zu reinen Textbüchern. Das entspricht dem zunehmenden Abstraktionsvermögen und vor allem der Fähigkeit, selbst Bildwelten aus Worten und Sätzen zu imaginieren. Die systematische Reduktion der visuellen Anteile bei gleichzeitiger Expansion des Textumfangs und Komplexität des Textes, der Aus- und Aufbau des Wortschatzes ist die Basis für sich entwickelnde Phantasie und das kreative Vorstellungsvermögen. Es ist ein Prozess zunehmender visueller und kognitiver Autonomie, es ist ein Prozess der Persönlichkeitsbildung. Was bedeutet es, Kinder und Jugendliche mit vorkonfektionierten Bildwelten zu konfrontieren? Was bedeutet es, Kinder und Jugendliche am Bildschirm/Rechner auf ein bestimmtes Rezeptionsverhalten zu konditionieren?
Multimediale Bildwelten
Die Kehrseite der immer stärkeren Fixierung auf multimediale Bildwelten ist die Infantilisierung großer Teile der Bevölkerung: hypnotisiert vor den flimmernden Bildschirmen oder Projektionen, der Tagesablauf durch Sendezeiten der TV-Programme strukturiert, örtlich gebunden, um das „Bild“ immer im Blick zu haben. Anders als beim Radio—oder Musikhören kann sich der Zuschauer nicht frei im Raum bewegen, sondern muss die Mattscheibe im Blick behalten – oder die Mattscheibe mitnehmen. Die Klientel, die nicht vor dem TV-Schirm sitzt, versorgt man daher mit Internetfernsehen, vorzugsweise am Laptop per Bluetooth, oder speziellen TV-Programmen fürs Handy. Keiner entkommt. Der Trend in Diskotheken geht derzeit in Richtung V-Js, (Video-Jockeys), die neben akustischem Klangteppich und Lightshow (wie die D-Js, die Disk-Jockeys) noch zusätzlich digital produzierte Videosequenzen über Beamer projezieren. Ob Musik-Clips, Werbetrailer oder Blockbuster: die (Bewegt-) Bilder werden in immer kürzere Sequenzen zerlegt. Schnelle Bildfolgen, begleitend starke Beats und bunte Farben, alles mit hoher Geschwindigkeit: ein multimedialer Overkill. Bloß keine Freiräume lassen, keine Sende- oder Funklöcher, immer online und die Augen und Ohren vollgestopft, damit, ja was ?
Der permanent beschallte, audiovisuell umworbene und bespielte Mensch verharrt im Stadium des mehr oder minder unmündigen Kindes: staunend, passiv, auf externe Vorstellungs- und Bildwelten fixiert: normierte Bildwelten. Man wird diese Entwicklung nicht alleine dem immer umfangreicheren Fernsehkonsum und der Arbeit an Computern zuschreiben können. Man wird aber kaum in Abrede stellen, dass multimediale Anwendungen einen deutlich geringeren Affirmationscharakter haben als Monomedien und deutlich mehr Aufmerksamkeitskapazitäten binden. Daher sollte man als erstes die Frage stellen: Was gewinnen wir durch multimediale Aufbereitung? Was verlieren wir – im Gegenzug — durch die Kombination der einzelnen Medienbausteine an Prägnanz und Authentizität?
Mediale Qualität
Ein stimmiger Text braucht keine Illustration – so wichtig die Illustration als Form der Auseinandersetzung und Transformation von gedanklichen Bildwelten in reale Visualisierungen auch ist. Ein Text alleine hat eine andere Qualität als ein illustrierter Text. Jede gute Zeichnung und Fotografie steht für sich, man muss kein „Klangbild darüber, darunter, dahinter legen. Man könnte stattdessen wieder lernen, Bilder zu betrachten. Man könnte wieder lernen, zu hören, und lernen zuzuhören. Man muss sich die Stärken der einzelnen Bausteine erst wieder vergegenwärtigen und die Nebenwirkungen jeglicher Kombination. So schön z.B. Hörbücher sind — beim Autofahren etwa, nachdem nun einen auch der Deutschandfunk mit grausigen „Jingles“ quält – stellt man (hoffentlich) fest: Rezitierte Texte haben eine andere Qualität als die Lektüre. Wer dabei stimmige „Klangbilder“ entwickelt, benötigt keine zusätzlichen Realbilder. Oder umgekehrt: Während das „main stream“-Kino glaubt, sich mit technischen/digitalen/special- Effekten überbieten zu müssen und die Schauspieler oft ohne Unterlass quasseln, feiern (nicht nur) asiatische Regisseure mit ruhigen Filmen und beeindruckenden Bildern, fast ohne Dialoge, Erfolge. Durch den audiovisuellen Overflow gibt es zunehmend wieder Platz und Publikum für Schwarzweiß- und Stummfilme.
Selbstredend für ein bestimmtes Publikum, aber das bestätigt nur die These der sozialen Selektion. Auch Bilder muss man (wieder) lesen lernen, da trotz allgegenwärtiger Bilderflut viele Menschen letztendlich visuelle Analphabeten sind. Die reine Addition der Medienbausteine schließlich führt zu einer gegenseitigen Kannibalisierung der Inhalte (so es welche gibt). Mit einem entsprechenden „Beat“ oder einer Lightshow zwingt man jeden Text und jedes Standbild in die Knie. Mit den „passenden“ Animationen wirken auch die stärksten Bilder rein dekorativ. Genügend Multimedia-Terminals und Soundanlagen in den Museen verhindern, dass potentielle Interessenten bis zu den Exponaten vordringen. Was wir seit ein paar Jahren am Theater erleben – Texte nur als Bühne für die Selbstinszenierung von Regisseuren – erleben wir bei vielen Multimedia-Produkten in anderer Form: Fokussierung auf das technisch Machbaren statt Konzentration auf Inhalt, Dominanz von Kommerz und Konsum statt Verantwortung und ethischer Prämissen.
Als Lehrender wird man daher zweierlei thematisieren:
- das Einzelmedium wieder in den Mittelpunkt stellen und hier an erster Stelle Sprache
und Schrift als elementare Kulturtechnik und Basis intellektueller Autonomie - die Frage stellen (und Antworten finden?), was und für was wir ausbilden. Medienge-
stalter und -ingenieure, die den medialen Smog noch perfekter, schneller, umfassen-
der inszenieren oder „Medienmacher“ mit Verantwortung.
In der Produktion von „Medienmatsch“ sind wir technisch nahezu perfekt. Natürlich wird damit „ein Markt bedient, Geld verdient, ein Publikum erreicht“ – die üblichen Argumente zur Legitimation jedwelchen medialen und technischen Unsinns. Betriebswirtschaftlich unterscheidet man denn auch strikt zwischen Qualität (Zielgruppenakzeptanz, Reichweite) und Niveau (inhaltliche Qualität und Seriosität). Begriffsdefinitionen und Umwidmungen sind nun mal eine beliebte Methode, sich der Verantwortung zu entziehen.
Vielleicht stünde es uns gut an, stattdessen die europäischen Traditionen der Aufklärung und des Humanismus zu reaktivieren, anstatt Medien zuvörderst unter rein betriebswirtschaftlichen und technischen Gesichtspunkten zu betrachten. Damit positioniert man sich zwar möglicherweise als „Ritter von der traurigen Gestalt“. (Cervantes „Don Quichotte de la Mancha“ hatte gerade 400-jähriges Jubiläum.) Für Humanisten mag die Figur des Idealisten jedoch attraktiver sein als untätig zuzusehen, wie der massenmedial konditionierte Mensch zunehmend infantilisiert und entmündigt wird.