Pädagogik statt Experimente mit Schülern als Versuchskaninchen

Jugendliche sollen nicht länger „Versuchskaninchen in einem digitalen Experiment“ sein verspricht der sozialdemokratische Minister für Kinder und Bildung, Mattias Tesfaye aus Dänemark. Dazu publiziert sein Ministerium eine Reihe vom Empfehlungen zum Umgang mit und dem Einsatz von digitalen Endgeräten in der Schule und in der Freizeit.

Von Ralf Lankau

Mattias Tesfaye, der sozialdemokratische Minister für Kinder und Bildung Dänemarks, hat sich in einem Interview mit der dänischen Tageszeitung Politiken vom 12. Dezember 2023 dafür entschuldigt, dass die dänische Regierung Kinder und Jugendlichen zu „Versuchskaninchen in einem digitalen Experiment“ gemacht habe, dessen Ausmaß und Folgen nicht zu überblicken seien (1). Zu lange habe man sich den großen Tech-Konzernen unterworfen (2). Man sei als Gesellschaft zu „verliebt“ gewesen in die Wunder der Digitalwelt.“ Jetzt müsse man, zum Schutz der Kinder und Jugendlichen, dringend umsteuern, damit wieder regulär unterrichtet werden könne und konzentriertes Arbeiten in Klassen wieder möglich werde.

Dänemark war, wie die meisten skandinavischen Länder, Vorreiter der Frühdigitalisierung bereits in der Grundschule oder sogar, wie in Schweden, in der Vorschule (ab zwei Jahren). Dänische Schülerinnen und Schüler nutzen laut letzter PISA-Studie (Dezember 2023) von den 81 beteiligten OECD-Ländern die meisten digitalen Werkzeuge im Unterricht. 72% der Schülerinnen und Schüler setzen in (fast) jeder Unterrichtsstunde digitale Hilfsmittel ein. Zugleich würden sie durch deren Nutzung und den Umgang ihrer Mitschüler/innen damit vom Unterricht abgelenkt. Das korrespondiert mit den desaströsen Ergebnissen u.a. der Leseleistungen von Schülerinnen und Schülern in Schweden und wird wissenschaftlich fundiert belegt durch eine Studie des Karolinska-Instituts (3).

Digitale Geräte und Dienste in Bildungseinrichtungen sind oft kontraproduktiv. Das hat zuletzt der UNESCO-Bericht „2023 Global Education Monitor“ mit dem Untertitel „Technologie in der Bildung: Ein Werkzeug zu wessen Nutzen?“ gezeigt. Bei den aktuellen IT-Konzepten für Bildungseinrichtungen stünden nicht das Lernen und der pädagogische Nutzen im Mittelpunkt, sondern wirtschaftliche Interessen der IT-Anbieter und Aspekte der Datenökonomie (4). Zum immer schlechteren Abschneiden bei Schulleistungstests (in Deutschland z.B. bei Vera, Timms & Co.) sind es eklatante Mängel in elementaren Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen, Zuhören) sowie zunehmende Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen.

Schweden als Vorreiter der (Rück)Besinnung auf pädagogische Prämissen

Schweden hat bereits reagiert und lässt wieder Schulbücher drucken und an alle Schulen verteilen, statt Tablets einzusetzen. Lesen und Schreiben lernt man besser mit Papier, Stift und gedruckten Büchern. Handschriftliche Notizen sind nachhaltiger als getippte. Buch und Papier lenken nicht vom Lernen ab, andres als Smartphone sind Tablets, wo alles nur einen Klick entfernt ist. In Schweden und jetzt Dänemark gilt daher: Private digitale Geräte sind nicht zugelassen, schuleigene Geräte werden nur dann aus dem Schrank geholt, wenn sie definitiv im Unterricht benötigt werden. Weitere Empfehlungen des dänischen Ministers sind z.B. eine Handy-/Smartphone-freie Schule (wie mittlerweile in Frankreich und in immer mehr Ländern weltweit, siehe UNESCO-Report), Reduktion der Bildschirmnutzungszeiten in und außerhalb der Schule, Einsatz digitaler Geräte nur bei didaktisch und pädagogisch sinnvollen Aufgaben, Zugriffsmöglichkeiten im Netz nur auf unterrichtsrelevante Netzdienste (White List, keine sozial nur genannten Dienste), klare Regeln und Absprachen zwischen Schulleitung, Kollegium, Eltern und Schülerinnen und Schülern über den Umgang mit App, Web & Co….

„Hier sind die Empfehlungen des Ministeriums an die Schulen. Legt eure Handys weg. Sperrt den Zugang zu Websites mit Spielen, Streaming und TikTok. Steckt euren Computer in eure Tasche, wenn ihr ihn nicht braucht. Die Schule sollte nicht eine Erweiterung des Jugendzimmers sein. Holt euch das Klassenzimmer zurück. Das ist die Botschaft. Ich bin sehr froh, dass wir jetzt die Empfehlungen verschicken können. Ich hoffe, dass sie eine gute Bildschirmstrategie in allen dänischen Schulen unterstützen können“ (Mattias Tesfaye)

Damit reagiert der dänische Minister, wie zuvor seine schwedische Kollegin, die Bildungsministerin Lotta Edholm (3), auf die negativen Folgen digitaler Endgeräte in Schulen. Das wiederum ist das Ergebnis der erfolgreiche Lobbyarbeit der IT-Wirtschaft und Verbände, die seit nunmehr über 40 Jahren den Ministerien und Schulträgern eingeredet haben, die generelle Digitalisierung von Schulen und die Ausstattung mit Endgeräten wäre notwendig und lernförderlich. Ohne nach dem Lebensalter der Schülerinnen und Schüler, nach Schulformen und Fächern zu differenzieren. „Digital first“ ist ja nicht nur ein verantwortungsloser Wahlkampfslogan neoliberaler Provenienz, sondern auch die Handlungsmaxime marktradikaler IT-Unternehmen. Das Unternehmen Meta (vormals Facebook) nutze mächtige und beispiellose Technologien, um Kinder und Jugendliche auf die eigenen Seiten und in die Falle zu locken, um dadurch Gewinne zu erzielen, heißt es z.B. in einer Klageschrift, mit der mehr als 40 US-Bundesstaaten den Facebook-Konzern wegen Gesundheitsgefährdung von Kindern und Jugendlichen verklagen (5).

Dabei wird keine einzige Unterrichtsstunde durch digitale Geräte alleine besser. Das haben zuletzt Studien aus der Corona-Zeit belegt. Fakt ist vielmehr, dass die schulischen Leistungen seit 2010 (!) kontinuierlich schlechter werden (siehe für Deutschland die IQB-Bildungsstudien). Die Ursachen dafür sind vielschichtig, aber mittlerweile sollte realisiert werden, dass zu den (mit)entscheidenden Ursachen für die Minderleistungen zum einen die Allgegenwart der Smartphones schon bei Kindern und das immer jüngere Einstiegsalter, zum anderen die stetig zunehmende Nutzungsdauer von sozial nur genannten Diensten ist.

Die ersten Smartphones kamen 2007 auf den Markt und werden beim Kauf neuer Geräte (alle 1 ½ bis 2 Jahre) an die nachfolgende Generation weitergegeben, mit entsprechenden Folgen (von Smartphonesucht über Depressionen bis zu Suizid, siehe die Klage gegen Meta). In Dänemark, Schweden, Frankreich, den Niederlanden u.a. reagieren die Bildungs- und Kultusministerien mit Empfehlungen, Regulierung und Smartphone-Verboten. Und in Deutschland? Hier fordert aktuell der Verband Bildung und Erziehung (VBE) die Vollausstattung (100%) der Schulen mit Tablets, Smartphones und Laptops. Dazu kommt die Forderung nach IT-Stellen für die Administration der Geräte. ((VBE-Landesvorsitzender Gerhard Brand (6) und Forsa-Studie (7).

„Digitalpakt 2“ und KI als Irrwege der Bildungspolitik

Andere Verbände der Lehrkräfte fordern Geld für einen „Digitalpakt 2“ statt einen am lernenden Menschen ausgerichteten „Bildungspakt“ zu fordern. Sie diskutieren landauf, landab über den „alternativlosen“ Einsatz von „Künstlicher Intelligenz“ an Schulen anstatt zu realisieren, dass hier eine über 70 Jahre alte Technik (siehe Norbert Wieners Cybernetics von 1948) wieder einmal, jetzt als generative KI, promotet wird. Tools wie ChatGPT und Co, sind Geschäftsmodelle aus dem Silicon Valley, die mittel-, womöglich sogar kurzfristig zur Selbstentmündigung durch die Delegation des Denkens an Maschinen der automatisierten Datenverarbeitung führen. Dabei ist KI per se rückwärtsgewandt, weil aus alten Datenbeständen keine Prognosen für die Zukunft berechnet werden können. Zur Selbstentmündigung und dem Glauben an eine vermeintliche, nur simulierte Intelligenz () kommt der Rück- statt Fortschritt.

„KI ist ein inhärent konservatives Instrument. Da geht es nicht um links oder rechts, sondern der Kern von KI ist: Sie lernt aus alten Daten und schreibt sie in die Zukunft fort.“ (Judith Simon, Hamburg und Mitglied im Deutschen Ethikrat, zit. nach Brühl, 2024). Dazu kommt, dass diese KI-Tools Black Boxes sind. Die eingesetzten Algorithmen ergänzen sich automatisiert und ohne Kontrolle durch Menschen (machine learning), die Datenbasis wird nicht geprüft (KI als Datenstaubsauger, ohne Qualitätskontrolle) und ändert sich ständig. Nicht einmal die Experten wissen noch, warum eine KI zu den jeweiligen Ergebnissen kommt. Aber Schule und Unterricht. Lernen und Bildung sind ohne KI nicht mehr denkbar? Generative KI ist das nächste Sozialexperiment, die Nutzerinnen und Nutzer einmal mehr Versuchskaninchen, diesmal nicht nur Schülerinnen und Schüler und auch nicht nur Bildungseinrichtungen, sondern alle sozialen Gemeinschaften (Arbeit, Bildung Gesundheit, Kommunikation…).

„Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten“ wird als Zitat Albert Einstein zugeschrieben und beschreibt den irrigen Glauben an digitale Lösungen, wo nur Menschen durch Diskurs und Reflexion verantwortungsvolle Entscheidungen treffen können. Darum fordern amerikanische Wissenschaftler ein Moratorium zu KI (https://futureoflife.org/open-letter/pause-giant-ai-experiments/). Drum fordern deutsche Wissenschaftler ein Moratorium zum Einsatz von IT und KI in Schulen (https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/wissenschaftler-fordern-moratorium-der-digitalisierung-in-kitas-und-schulen.html). Es gibt keinerlei Notwendigkeit, sich selbst zum „Versuchskaninchen in einem digitalen Experiment“ zumachen. Es war und ist unverantwortlich, Kinder und Jugendliche zu „Versuchskaninchen in digitalen Experimenten“ zu machen. IT und KI müssen durch den Menschen steuerbar sein, nicht der Mensch durch IT- und KI-Systeme.

„Man darf dem Computerwesen nicht begegnen wie ein Idiot, der sich beschwatzen lässt, in ein neuartiges Flugzeug zu steigen, von dem selbst der Pilot nicht kapiert, wie es funktioniert, nur weil es schnell ist“ (Tony Hoare, zit. nach Dath, 2024, 9).


Verweise im Text

1) Mattias Tesfaye entschuldigt sich bei einer Generation von digitalen Versuchskaninchen.
Wir haben eine Generation von Kindern und Jugendlichen im Stich gelassen, indem wir ihnen die Möglichkeit genommen haben, in eine naive Begeisterung für Technologie einzutauchen, sagt der Minister für Kinder und Bildung.

2) Nach einem Jahr intensiver Debatte: Die Regierung legt neue „restriktive“ Empfehlungen für Bildschirme in Schulen und Horten vor.
Wir müssen die Schulen im Kampf um die Aufmerksamkeit gegen die Tech-Giganten verteidigen, sagt die Ministerin für Kinder und Bildung über die neuen Empfehlungen für Bildschirme in Grund- und Sekundarschulen und Horten.

3) Karolinska-Institut (Schweden): Stellungnahme zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung von Redaktion. Die schwedische Regierung machte ihre Entscheidung, Vorschulen verpflichtend mit digitalen Geräten auszustatten, rückgängig. Die neue Position fußt wesentlich auf der (hier in Schwedisch und Deutsch zur Verfügung gestellten) Stellungnahme des Karolinska Instituts. Von Peter Hensinger und Ralf Lankau.

4) UNESCO-Bericht zu IT in Schulen fordert mehr Bildungsgerechtigkeit.
Die UNESCO hat den Einsatz von Digitaltechnik in Schulen weltweit untersucht und die Ergebnisse mit dem Bericht „2023 Global Education Monitor“ vorgelegt. Der Untertitel „Technologie in der Bildung: Ein Werkzeug zu wessen Nutzen?“ verdeutlicht die Fragestellung. Das Ergebnis: Bei den aktuellen IT-Konzepte für Bildungseinrichtungen stehen nicht das Lernen und der pädagogische Nutzen im Mittelpunkt, sondern wirtschaftliche Interessen der IT-Anbieter und Aspekte der Datenökonomie. Das Ziel des Berichts ist, den Einsatz von Informationstechnik an den Bedürfnissen und zum Nutzen von Lernenden auszurichten statt an Partikularinteressen der IT-Wirtschaft und einzelner Medienanbieter.

5) Sammelklage wegen Gesundheitsschäden bei Jugendlichen gegen Meta (Facebook)
Das Unternehmen Meta (vormals Facebook) nutze mächtige und beispiellose Technologien, um Kinder und Jugendliche auf die eigenen Seiten und in die Falle zu locken, um dadurch Gewinne zu erzielen, heißt es in einer Klageschrift, mit der mehr als 40 US-Bundesstaaten den Facebook-Konzern wegen Gesundheitsgefährdung von Kindern und Jugendlichen verklagen. Die Bundesstaaten werfen dem Konzern vor, seine Onlinedienste „auf manipulative Weise so zu gestalten, dass Kinder abhängig werden und zugleich an Selbstwertgefühl verlieren“.

6) Pressemeldung VBE – Verband Bildung und Erziehung Baden-Württemberg vom 5.2.2024: „Wir brauchen jetzt einen Digitalpakt 2.0“; In der Pressemitteilung vom 5. Februar 2024 heißt es dazu: „Die Schulen haben einen gewaltigen Schritt nach vorne gemacht [signifikanter Anstieg von Schulen, an denen teilweise Klassensätze an Laptops, Tablets oder Smartphones vorhanden sind; Stand 2020: 30 Prozent, Stand 2023: 80 Prozent; rl]. Das ist erfreulich. So gut die Zahlen auch sind, mehr Endgeräte bedeuten mehr Zeit für die Bereitstellung und für die Wartung. Diese Administrationstätigkeit und die Netzwerkbetreuung an Schulen sind in den vergangenen Jahren so aufwändig und so komplex geworden, dass die Kolleginnen und Kollegen, die sich darum kümmern, deutlicher als bisher entlastet werden müssen.“ (VBE-Landesvorsitzender Gerhard Brand))

7) Forsa-Bericht: Die Schule aus Sicht der Schulleiterinnen und Schulleiter. Digitalisierung und digitale Ausstattung. Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativbefragung. Auswertung Baden-Württemberg;

Literatur und Quellen

Brühl, Jannis (2024) KI ist bald überall. Die Philosophin Judith Simon erklärt, warum künstliche Intelligenz hochpolitisch ist, in: SZ vom 7.2.24, S. 15

Dath, Dietmar (2024) Perfekter Programmprüfer, in: FAZ vom 11.1.2024, S. 9

Links

Seite des dänischen Ministeriums:
Anbefalinger om skærmbrug klar til grundskoler og fritidstilbud

Übersetzung (dt.): Dänemark: Empfehlungen zur Bildschirmnutzung für Grundschulen und außerschulische Programme