Zur fatalen Leseschwäche von Schweizer Schülerinnen und Schülern
Von Carl Bossard
25 Prozent der 15-Jährigen in der Schweiz kann nur ungenügend lesen, diagnostiziert die PISA-Studie 2022. Jeder vierte Schulabsolvent ist nach neun Schuljahren nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Konkret: Er vermag das Geschriebene zwar zu entziffern, versteht aber das Gelesene im Gesamtkontext nicht. Das ist besorgniserregend. Lesen bleibt der Schlüssel fürs Lernen und die Teilhabe an der Welt – und unserer Demokratie.
Das Kernproblem mangelnder Lesekompetenz liegt beim Verstehen. Warum? Konzentrierte Lektüre wird seltener, das intensive Lesen nimmt ab. Usanz ist heute das Lesen von WhatsApp-Nachtrichten und von flüchtig gescannten Kurztexten. Das gehört zum Leben junger Leute, ebenso Social-Media-Kanäle wie Tiktok. Der Lesemodus liegt im Überfliegen von Texten und im Gebrauch von Tablets oder Smartphones. Dabei können Alerts die Lektüre jederzeit unterbrechen.
Dass vieles so leicht zu haben ist, zeitigt Folgen. Wer kurze Wege gewohnt ist, reagiert unwirsch auf längere, oder anders gesagt: Die Welt der nicht alltäglichen Sprache, des differenzierenden Diskurses ist für manche Schülerinnen und Schüler darum eine unvertraute Gegend geworden. Nicht alltägliche Texte lesen und den Sinn verstehen wird für sie zur Schwerarbeit, die Aufgabe einer nuancierten Versprachlichung zur subjektiven Zumutung. So öffnen sich neue Sprachbarrieren. Das Unbehagen am Lesen steigt.
Umso mehr müsste die Schule hier Gegensteuer geben und die jungen Menschen aus ihren Eigenwelten mit den Fast-Food Informationen herausholen. Sie müsste ihnen als Brückenbauerin andere (Lese-)Welten einsichtig machen und sie darin trainieren. Mit bewusst gewähltem Anspruch. Gefordert ist ein intensives, kontinuierliches Training in wohldosierten sprachlichen Fremdheiten – die Lehrerin als Fremdenführerin! Die Freude am Lesen kommt mit dem Können. Es ist eine Überbrückungsarbeit zwischen den Schülerhorizonten und dem elementaren Bildungsauftrag der Schule. Hier liegt eine ihrer ganz wichtigen Aufgaben. Auch demokratiepolitisch. Lesekompetenzen und Formen des Lesens sind keine Relikte eines analogen Zeitalters.
Nicht Zusätzliches an Inhalten wäre gefordert, sondern Kontrastives, eine Art Gegenhalten im Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zu formaler Sprache und Diskursivität. Das bedeutet für Lehrpersonen einen spürbaren Zuwachs an Anstrengung, bleibt aber als Aufgabe und didaktische Pflicht. Sie geht weit über das reine Entziffern von Texten hinaus. Es ist ein bewusstes Hinführen zum Erkennen und Verstehen.
Dieser Auftrag braucht Zeit. Doch sie fehlt. An der Schule muss zu vieles gleichzeitig erarbeitet werden: Deutsch, Frühenglisch, Frühfranzösisch, die ganze Integration und anderes mehr. Es ist eine einfache Proportionenrechnung: Wenn die Aufgabenfülle steigt und die Inhalte zunehmen, reduziert sich die Übungszeit. Beides lässt sich nicht gleichzeitig maximieren. Lehrerinnen und Lehrer kommen deutlich weniger zum Üben. Auch flüssiges und verstehendes Lesen will automatisiert sein. Aus der Gedächtnispsychologie wissen wir: Je stärker wir eine Grundfertigkeit im täglichen Leben brauchen, desto intensiver müssen wir sie trainieren. Das gilt auch für die grundlegende Kulturtechnik des Lesens.
Konzentriertes Lesen oder «Deep Reading», wie es die Leseforschung nennt, muss geduldig gelehrt, intensiv und auch gemeinsam geübt und reflektiert werden. Aus Sicht der Wissenschaft zuerst mit analogen und erst dann mit digitalen Medien. Dazu schreibt Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler und Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg: «Wir brauchen eine Renaissance der Lektüre, eine Renaissance des Leseunterrichts, und zwar im Kern des Curriculums, mit Lektürestunden in jeder Schulart und in jedem Schulfach.» Es ist das alte Postulat: «Get the fundamentals right, the rest will follow.» Auf die guten Grundlagen kommt es an!