Kinderärztin Arnika Thiede hat bei den Barmherzigen Brüdern in Linz fast täglich mit verhaltensgestörten Kleinkindern zu tun. Der Grund: exzessiver Medienkonsum.
Interview mit dem Redakteur Daniel Gruber von den OÖNachrichten
Linz, 11. Jänner 2025
OÖNachrichten: Experten warnen vor den Folgen der exzessiven Mediennutzung bei Kindern. Schulsozialarbeiter Christian Hofer sagte erst kürzlich im OÖN-Interview, dass die Fälle von Mediensucht durch die Decke gehen. Teilen Sie diese Einschätzungen?
Arnika Thiede: Ein hoher Medienkonsum bereitet nicht erst Schulkindern Probleme. Wir sehen in unserer Entwicklungsmedizinischen Ambulanz fast täglich Kinder unter vier Jahren mit Sprachentwicklungs- und Verhaltensstörungen. Die Kleinkinder leben zum Teil in ihrer eigenen Welt. Sie haben nie kennengelernt, wie man mit anderen Kindern spielt. Sie wissen selber gar nicht, wie man spielt. Sie manipulieren ihre Eltern, indem sie auf Ansprache nicht reagieren und schreien. Die Eltern wissen nicht mehr weiter und setzen die Kinder vor den Fernseher, das Tablet oder Handy. Dann ist Ruhe.
OÖNachrichten: Welche Konsequenzen hat das für die Kinder?Arnika Thiede: Ein exzessiver digitaler Medienkonsum kann unter anderem zu Adipositas und Schlafstörungen führen. Das Gehirn verändert sich auch strukturell und funktionell. Je früher und länger digitale Medien konsumiert werden, desto ausgeprägter sind die Veränderungen, die sich trotz Reduktion der Bildschirmzeit bis ins Erwachsenenalter ziehen können.
OÖNachrichten: Welche Sprachstörungen kommen bei Kleinkindern vor?Arnika Thiede: Sie sprechen wenig bis gar nichts. Seit Jahren fällt uns aber auf, dass sie vermehrt englische Phrasen verwenden, selbst wenn die Eltern kein Wort Englisch sprechen. Das haben sie beispielsweise von YouTube. Die Kinder geben diese Phrasen wieder, verstehen die Bedeutung aber natürlich nicht.
Kinder vor Bildschirmen
- 60 Prozent der Ein- bis Zweijährigen in Österreich verbringen laut Elternangaben bis zu zwei Stunden täglich vor dem Handy, Tablet oder Fernseher.
- 50 Prozent der Zwei- bis Dreijährigen können ein Handyspiel selbstständig bedienen.
- 44 Prozent der Fünf- bis Sechsjährigen können einen Touchscreen perfekt bedienen. Viele dieser Kinder können aber nicht selbständig mit Besteck essen, sich keine Schuhe binden oder sich nicht alleine an- und ausziehen.
OÖNachrichten: Darum haben Sie ein Präventionsangebot geschaffen. Wie kam es dazu?
Arnika Thiede: Mit dem Workshop „Smart(ohne)phone“ wollen mein Kollege Christoph Rosenthaler und ich werdende Eltern und jene von Kleinkindern ansprechen. In Oberösterreich gibt es schon gute Angebote, aber vorwiegend für Schüler. Für junge Familien mit Kleinkindern gibt es nichts. Vor eineinhalb Jahren hatte ich einmal eine Woche lang nur Kinder mit maximalem Medienkonsum – sogenannte Medienautisten – in der Ambulanz. Sie haben nicht gesprochen, wenig soziale Interaktion gezeigt und schienen ähnlich wie Kinder im autistischen Spektrum in ihrer eigenen Welt zu leben. Mich hat das so geärgert, dass das nirgends erfasst wird. Ich habe mich an die Präsidentin der Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde gewandt und wir haben uns in einem offenen Brief an den Bundeskanzler und mehrere Ministerien gewandt.
OÖNachrichten: Wie war die Resonanz?Arnika Thiede: Grundsätzlich war das Interesse groß. Wir wurden ins Bundeskanzleramt eingeladen und hatten Gespräche mit dem Gesundheitsministerium, finanzielle Unterstützung gab es leider keine.
OÖNachrichten: Das Krankenhaus ist eingesprungen, der Workshop wird in der hauseigenen Elternakademie umgesetzt. Wie läuft das ab?Arnika Thiede: Der interaktive, kostenlose Workshop des Instituts für Sinnes- und Sprachneurologie dauert eine Stunde und findet an zwei Abenden pro Semester statt. Neben einem Impulsvortrag über die Gefahren des frühen digitalen Medienkonsums geben wir den Eltern auch Tipps zum altersgerechten Spielen, ohne die Kinder vor einen Bildschirm zu setzen. Wir klären sie aber auch auf, dass es in Ordnung ist, mit der Oma per Video zu telefonieren oder sich kurz Urlaubsbilder auf dem Handy anzuschauen. Wichtig ist, die Kinder nicht alleine vors Handy zu setzen.
OÖNachrichten: Erreichen Sie die gewünschte Zielgruppe?
Arnika Thiede: Der Workshop ist freiwillig. Dadurch erreichen wir nur die Eltern, die sich schon Gedanken machen. Wir würden gerne mehr Menschen ansprechen, dafür bräuchten wir aber Unterstützung. Zum Beispiel mit Werbebannern oder Beiträgen auf öffentlichen Videoscreens um Eltern und Kinder aufzuklären.
OÖNachrichten: Wie sind die Reaktionen der teilnehmenden Eltern?
Arnika Thiede: Es ist erstaunlich, welche Unsicherheiten mit kindlichem Medienkonsum verknüpft sind und wie stark das damit einhergehende Konfliktpotenzial Familien belastet. Eltern wollen das Beste für ihr Kind, denken oft, ein ruhiges Kind ist automatisch ein glückliches. Dabei tappen sie rasch in die Medienfalle: Sie benutzen das Handy als Belohnung, überbrücken Wartezeiten oder stellen das Kind ruhig.
OÖNachrichten: Warum ist das Handy schon für Kleinkinder so interessant?
Arnika Thiede: Es aktiviert das Belohnungssystem, bei der Nutzung wird Dopamin ausgeschüttet. Zusätzlich imitieren Kinder alles. Sie sehen, dass die Eltern ständig am Handy sind, und darum ist es sehr attraktiv.
OÖNachrichten: Das erste eigene Handy ist ein emotionales Thema. In welchem Alter würden Sie es empfehlen?
Arnika Thiede: Das erste eigene Handy sollte so lange wie möglich hinausgezögert werden. Laut unseren Erfahrungen braucht ein Volksschulkind kein eigenes Handy. Wenn sie in der Mittelschule oder im Gymnasium einen weiteren Schulweg alleine zurücklegen müssen, ist es sinnvoll.
OÖNachrichten: Sie sind seit fast 18 Jahren in Linz tätig. Ab wann sind die Fälle stark angestiegen?
Arnika Thiede: Massiv aufgefallen ist uns die Entwicklung schon ab 2017 und verstärkt während der Corona-Pandemie. Corona hat den Familien nicht gutgetan, weil die Haushalte weiter medial aufgerüstet wurden, und was mache ich mit den Kindern, wenn der Spielplatz gesperrt ist?
OÖNachrichten: Stunden vor dem Bildschirm waren die Folge. Haben Sie konkrete Zahlen dazu?
Arnika Thiede: Aus Studien der vergangenen zehn Jahre lässt sich für Österreich und Europa ableiten, dass 60 Prozent der Ein- bis Zweijährigen laut Elternangabe täglich bis zu zwei Stunden vor Bildschirmen verbringen. 40 Prozent der Zwei- bis Dreijährigen können selbstständig ein Handyspiel bedienen, 50 Prozent finden alleine den Weg zu YouTube und 44 Prozent der Fünf- bis Sechsjährigen können zwar einen Touchscreen perfekt bedienen, aber nicht selbstständig mit Besteck essen, sich die Schuhe binden oder sich alleine an- und ausziehen. Das ist schon heftig.
OÖNachrichten: Und wie lauten die offiziellen Empfehlungen?
Arnika Thiede: Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt unter drei Jahren gar keinen Medienkonsum. Das ist aber in der Realität nur sehr schwer machbar. Ab drei Jahren sind gemeinsam mit einem Elternteil 30 Minuten täglich und ab sechs Jahren dann eine Stunde pro Tag empfohlen.
Die Fragen stellte der OÖN-Redakteur Daniel Gruber. Abdruck des Interviews mit freundlicher Genehmigung der Oberösterreichischen Nachrichten. Quelle:https://www.nachrichten.at/oberoesterreich/kinderaerztin-sie-koennen-handys-bedienen-aber-nicht-mit-besteck-essen;art4,4015138
* Dr. Arnika Thiede ist Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde mit dem Schwerpunkt Neuro- und Sozialpädiatrie. Sie ist am Ordensklinikum Barmherzige Brüdern in Linz tätig, insbesondere im Institut für Sinnes- und Sprachneurologie. Zudem leitet sie die neurologisch-linguistische Ambulanz des Instituts. Dr. Thiede engagiert sich auch in der Arbeitsgruppe Neuropädiatrie der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde. Darüber hinaus ist sie in der Elternakademie der Barmherzigen Brüder Linz aktiv, wo sie Eltern in verschiedenen Bereichen der kindlichen Entwicklung informiert und unterstützt.
Wartelisten sind voll. Exzessiver Medienkonsum bei jedem vierten Kind
LINZ. Eine gestörte Eltern-Kind-Interaktion oder Konzentrationsschwächen aufgrund eines frühen und mitunter exzessiven Medienkonsums sind in Oberösterreich keine Seltenheit mehr. Zudem werden die Häufigkeit – bei 20 Prozent der Fälle – und die Auswirkungen von neuronalen Entwicklungsstörungen unterschätzt, sagt Johannes Hofer, Leiter des Instituts für Sinnes- und Sprachneurologie der Barmherzigen Brüder in Linz. Rund 30 Vorschulkinder werden pro Woche in der Entwicklungsmedizinischen Ambulanz der Barmherzigen Brüder behandelt. Der Bedarf wäre aber größer. „Generell explodieren die Anmeldezahlen, und unsere Wartelisten sind unhaltbar überfüllt. Handeln ist dringend gefragt“, sagt Hofer.
Die Familien würden laut Hofer Unterstützung und Angebote benötigen, um den Stress und Druck im Alltag bewältigen und gleichzeitig wieder „echte Qualitätszeit“ mit dem Nachwuchs verbringen zu können. Wie viele Kinder tatsächlich einen exzessiven Medienkonsum aufweisen, ist laut dem Institutsleiter noch nicht flächendeckend erfasst. „Rein aus klinischer Erfahrung betrifft dieser aber gut ein Viertel“, sagt Hofer. Jedes dritte Kind zeige zumindest einen bedenklichen Medienkonsum. (dagr)
Beitrag auf der Homepage von diagnose funk:
„Kleinkinder können Handys bedienen, aber nicht mit Besteck essen“ Von Daniel Gruber,
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„Kleinkinder können Handys bedienen, aber nicht mit Besteck essen“ Von Daniel Gruber