Bildungsziel: Sprachliche Ausdrucksfähigkeit

Unser Denken vollzieht sich sprachlich. Doch dieses Können kommt kaum von selbst. Es will intensiv geschult sein – auch in der Schule. Ein Plädoyer fürs Üben und Ermutigen, aufgezeigt an einem Bilderbuch.

Ein Beitrag von Carl Bossard

An einem ganz bestimmten Ort lebt ein Gedankensammler.[i] Grantig, so heisst der Mann, der leicht gebeugt geht. Er trägt eine alte Schirmmütze und einen abgenutzten Rucksack. Jeden Morgen zieht er los, streift durch die Strassen der Stadt und lauscht. Grantig sammelt Gedanken: fröhliche Gedanken und traurige. Kluge Gedanken und dumme. Laute Gedanken und stille. Lange Gedanken und kurze. Eigentlich sind ihm alle Gedanken wichtig. Obwohl er natürlich seine Lieblingsgedanken hat. Doch das lässt er sich nicht anmerken, damit er die anderen nicht verletze. Gedanken seien da sehr empfindlich, sagt er sich.

Zu Gedanken anregen, sie ordnen und erweitern

Die gesammelten Gedanken trägt Herr Grantig im Rucksack behutsam nach Hause. Dort sortiert und ordnet er sie. Wie ein guter Gärtner lässt er sie nachreifen und setzt sie später sorgfältig in die Erde. Die Gedanken entfalten sich, blühen auf und zerfasern sich beim Morgendämmern in winzig kleine Teile. Mit dem ersten Windhauch entschweben die Gedankenblumenteilchen; sie kehren in die Köpfe der Menschen zurück. So entwickeln sich neue Gedanken. Ganz unterschiedliche. Vielfältige.

Grantig ist kein Unikum. In vielem gleicht eine Lehrperson dem geduldigen Gedankensammler Grantig. Für ihn bedeutet die Stadt ein grosses Gedankenareal. In Analogie dazu bildet das Klassenzimmer ein Sprachareal. Gute Lehrerinnen und Lehrer regen mit Fragen zum Denken an, lassen ihre Kinder und Jugendlichen Gedanken sammeln, lassen sie nuancieren, ordnen und anreichern – genau wie Grantig. Mit dem präzisen Formulieren und dem kohärenten Aufbau erhalten die Gedanken Farbe, Form und Gestalt.

Den Gedanken eine genaue Gestalt geben

Jeder Gedanke hat einen Körper, die Sprache. Das tönt zwar banal. Doch den eigenen Gedanken einen präzisen Körper geben, die prägnante Sprache, das ist gekonntes Handwerk und anspruchsvolle Aufgabe zugleich. Diese Aufgabe stellt sich immer wieder: beim Übergang von der Idee zum gesprochenen Wort, vom Gedachten zum konkreten Text, beim Finden und Formulieren des passenden Gedankens und des richtigen Satzes. Konfuse Gedankenflüge werden klarer, wenn sie sich der Grammatik und Semantik aussetzen müssen.

Sich klar ausdrücken können, konzis und präzis: Das kommt nicht von selber. Es ist eine eminent pädagogische Aufgabe und fordert die Lehrpersonen. Mit den Kindern und Jugendlichen dieses Können aufbauen braucht Impulse und Geduld, benötigt Übung und bedarf der Ermutigung. Es ist intensive Arbeit an der Sprache. Und Arbeit an der Sprache ist Arbeit am Gedanken, wie uns Friedrich Dürrenmatt wissen lässt. Denn jeder Gedanke entsteht erst mit seiner sprachlichen Fassung. Klar gedacht, heisst sprachlich gut herausgearbeitet – und gut gesprochen oder genau geschrieben, heisst klar gedacht.

Kern der Bildung: Ausdrucksfähigkeit

Denken vollzieht sich sprachlich. Und durch Sprache gelangt man zum Verstehen. Das gilt für alle Fächer. Die Kernsprache Deutsch will darum geübt sein. Konsequent und unnachgiebig. Gerade auch bei Kindern aus weniger privilegiertem Elternhaus oder bei Jugendlichen mit fremdsprachlichem Hintergrund! Doch in der (Über-)Fülle der Fächer und der Dichte des konkreten Schulalltags fehlt dazu vielfach die Zeit. Das Sprachtraining Deutsch kommt zu kurz. Zu viel anderes muss mit zu wenig Zeit durchgenommen und behandelt sein – auch das ohne die notwendige Tiefe, ohne das unerlässliche Konsolidieren, Automatisieren und Anwenden. So bleibt manches an der Oberfläche. Man surft darüber hinweg.

„Lernt endlich Deutsch!“, beschwor darum die NZZ am Sonntag vor Kurzem. Und sie konkretisierte knapp und konzis: „Die Politik hat vor lauter Befriedigung von Partikularinteressen den Fokus auf den Kern jeder Bildung verloren: die Ausdrucksfähigkeit.“[ii] Statt dessen führten die Bildungsdepartemente Allerweltsfächer wie Religion, Kulturen und Ethik ein und überfrachteten seit Jahren die Primarschulkinder mit Frühfranzösisch und -englisch, obwohl die Resultate, gelinde gesagt, zweifelhaft seien, gab die NZZaS zu bedenken.

Das Ringen um sprachliche Präzision

Wie wichtig gute Deutschkenntnisse sind, zeigt sich beispielsweise auch in der Mathematik. Viele Aufgaben sind heute textgebunden und alltagsbezogen. Das sogenannte mathematische Modellieren lädt zum Reden über Mathematik ein, zum Argumentieren und Begründen. „Das Ringen um sprachliche Präzision bei der Beschreibung mathematischer Konzepte ist essenziell, um Mathematik zu verstehen“, betont die Hochschullehrerin Susanne Prediger.[iii] Sie forscht an der Technischen Universität Dortmund zum Mathematikunterricht.

Ein Unterricht, der das Sprachverständnis ausbildet und das Verstehen komplexer Probleme fördert, erzielt grössere Lernfortschritte als herkömmliche Lernformen. Die Mathematikerin Susanne Prediger konnte dies in mehreren empirischen Studien nachweisen. Denken vollzieht sich sprachlich.

Sprache üben wie ein Musikinstrument

Alles ist und alles geschieht eben in der Sprache; ohne sie hat nichts Bestand, meint der Schriftsteller und intellektuelle Querkopf Martin Walser. Vielleicht etwas gar pointiert formuliert. Doch Walser weist zu Recht darauf hin, wie wichtig Sprache ist. Darum müssen wir diesem subtilen Instrument Sorge tragen und es auch üben wie eine junge Geigerin ihre Violine. Man kann mit und an der Sprache scheitern. Beispiele gibt es genügend – aus Betrieben, Berufsschulen, Universitäten.

So erzählt der Rechtswissenschaftler Alain Griffel, Ordinarius an der Universität Zürich: „Kürzlich habe ich ein Gerichtsurteil gelesen, vermutlich verfasst von einem jungen Gerichtsschreiber, von dem selbst ich als Jurist die entscheidende Passage nicht verstanden habe.“[iv] Das ist leider kein Einzelfall. Griffel fügt bei: „Ein fähiger Jurist arbeitet mit der Sprache wie der Chirurg mit dem Skalpell – und nicht mit einem Brotmesser.“ Die Rechtswissenschaftliche Fakultät reagiert und führt ab Herbst 2021 für Erstsemestrige einen obligatorischen Kurs zum wissenschaftlichen Schreiben ein. Selbstverständliches ist abhandengekommen!

Gedanken sichtbar machen – über Sprache

„Gäbe es die Gedankensammler nicht, gäbe es irgendwann auch keine Gedanken mehr“, schmunzelt Herr Grantig am Schluss des inspirierenden Bilderbuches. Und er könnte den Gedanken auch keine Form, keine Farbe, keine Gestalt mehr geben, sei beigefügt. Genau dazu anleiten müssen Lehrerinnen und Lehrer. Ihre Schülerinnen und Schüler zu präziser Ausdrucksfähigkeit führen zählt zu ihren wichtigsten Aufgaben. Heute mehr denn je.

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Literatur

[i] Monika Feth, Antoni Boratyński (2018), Der Gedankensammler. Frankfurt am Main: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH.

[ii] Peter Teuwsen (2020), „Lernt endlich Deutsch!“, in: NZZaS, 01.11.2020, S. 57.

[iii] Thomas Kerstan (2020), Mit Liebe rechnen, in: DIE ZEIT, 15.10.2020, S. 38.

[iv] Joel Bedetti (2020), Deutsch, aber leider nicht deutlich, in: NZZaS, 27.09.2020, S. 4 (Beilage Bildung).