„Social-Media-Plattformen nutzen süchtigmachende Designs, um Bildschirmzeiten und damit Gewinne zu maximieren – mit erheblichen Risiken für die Gehirnentwicklung junger Menschen und ihrer psychischen Gesundheit.“ So beginnt eine Pressemeldung für ein neues Gutachten des Rat für Digitale Ökonomie. Über smartphonesüchtige Kids wird zwar schon länger diskutiert, aber mittlerweile gibt es zahlreiche Belege und Studien.
„TikTok ist die Hölle. Aber schon verdammt gut gemacht“, beschreibt der österreichische ORF-Journalist Armin Wolf in einem Gastbeitrag für das Portal Übermedien, was viele Menschen aus eigenem Erleben kennen. Er sei ein erwachsener Mensch und an sich nicht suchtaffin, „aber wenn ich die TikTok-App mal offen habe, kriege ich sie kaum wieder zu.“
33 US-Bundesstaaten und weitere US-Behörden klagen gegen das Technologieunternehmen Meta wegen Gesundheitsgefährdung von Kindern und Jugendlichen (1). Die EU-Kommission hat ein formelles Ermittlungsverfahren gegen TikTok eingeleitet, u.a. wegen Verstößen gegen die Altersüberprüfung, den Umgang mit Nutzerdaten, die Verbreitung illegaler Inhalte und Designtechniken bzw. interaktiver Elemente, die gezielt die Nutzungszeit verlängern und süchtig machen sollen. (2)
Der gemeinsame Nenner der Klagen sind valide Belege, dass die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wissentlich gefährdet und den Wirtschaftsinteressen der Datenökonomie und ihrer Parameter (Steigerung von Nutzungsdauer, Klickraten und Reichweite, Steuerbarkeit der User) untergeordnet werden. Francis Haugen hatte das in ihrem Buch „Die Wahrheit über Facebook“ (2023) bereits publiziert und mit internen Unterlagen belegt. Anhörungen in den USA laufen, die Anklagen gegen Unternehme wie TikTok, Meta, Snap und Discord werden mittlerweile in aller Deutlichkeit formuliert. (3)
Gutachten des Rats für digitale Ökologie
Die neurowissenschaftlichen Hintergründe erklärt nun ein Gutachten des Rats für Digitale Ökologie (RDÖ) als Text und begleitendes Video erklärt.
Berlin, 29. Februar 2024 – Social-Media-Plattformen wie Facebook, Instagram, TikTok usw. erzeugen Abhängigkeit oder gar Suchtverhalten bei ihren Nutzer:innen – sehr wahrscheinlich bewusst und gezielt. Die Designs der Plattformen und Algorithmen sind darauf angelegt, Verweildauer und Interaktion auf der jeweiligen Plattform zu maximieren, um so höchstmöglichen kommerziellen Nutzen zu ziehen. Dies geschieht durch die gezielte Aktivierung neuronaler Systeme, die der Mensch nicht bewusst steuern kann.
Professor Frederike Petzschner von der Brown-University und ihr Team zeigen, wie Design und Algorithmen tief in die Psyche eingreifen. Insbesondere für die Entwicklung der Gehirne junger Menschen hat dies womöglich gravierende Folgen. Welche, ist völlig ungewiss. Der Rat für Digitale Ökologie spricht angesichts hunderter Millionen betroffener Kinder und Jugendlicher daher vom derzeit größten sozialen Experiment der Menschheitsgeschichte.“
Zitat aus der Zusammenfassung
Der Rat für Digitale Ökologie fordert die Politik auf, diese eminent gefährliche Entwicklung zur Kenntnis zu nehmen und – wie die US-Bundesstaaten – entsprechende Maßnahmen
zu ergreifen.Es braucht (1) Vorgaben und Regularien, die die Anbieter zur algorithmischen Transparenz verpflichten, inklusive der Offenlegung, auf welche Variablen diese optimiert werden. Diese Daten braucht es sowohl für die Forschung als auch für die Suchtprävention.
Doch mit einem Transparenz-Versprechen ist es nicht getan, sondern es braucht (2) öffentlich-rechtliche soziale Plattformen, da diese schon längst Deliberations-Räume für Demokratie und Teilhabe sind. Ihre Funktionen innerhalb einer modernen Gesellschaft müssen als Teil kritischer Infrastruktur verstanden werden.
Deshalb sollte es (3) gesetzlich untersagt werden, mit Verhaltensvorhersagen Geld zu verdienen. Das ist die Voraussetzung dafür, Plattformen wirklich user-zentriert und im Sinne der Nutzenden zu gestalten.
Kurzfristig braucht es (4) verpflichtende Einschränkungen der auf Gewohnheit und Abhängigkeit optimierten Designs.
Schließlich (5) ist die Bildungspolitik adressiert, die die Nutzung von Smartphones während der Unterrichtszeit einschränken oder ganz verbieten könnte.
Die wichtigste Empfehlung an die Politik ist aber, ernst zu nehmen, dass (6) Social Media auch die Psychologie der Bürgerschaft des demokratischen Staates verändert – sowohl was die Mediennutzung, die Aufmerksamkeitsspanne, die Beziehungsverhältnisse und die Selbstverhältnisse der Menschen angeht.
Dabei ist direkt betroffen, was wir vor dem Hintergrund der Aufklärung und der politischen Geschichte für die zentrale Voraussetzung von Demokratie halten: nämlich die Autonomie der Bürger:innen und ihre eigene Urteilskraft. Gilt daher noch das Prinzip der „Erziehung zur Mündigkeit“, das normativ die westlichen Demokratien begründet und die Freiheit ihrer Mitglieder garantiert? Oder sehen wir hier, und nicht nur bei den heranwachsenden Gesellschaftsmitgliedern, Einschränkungen der Entwicklung der Urteilskraft, die weit über die individuellen Folgen hinaus Wirkung auf die soziale und politische Praxis in unseren Gesellschaften entfalten? Demokratien leben von der Urteilsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft ihrer Bürger:innen. Wenn diese unterminiert werden, können Demokratien langfristig nicht existieren.
Website: Rat für digitale Ökologie
Das ganze Positionspapiers des Rates für Digitale Ökologie als PDF: „Abhängig von TikTok & Co. Wie Social-Media-Algorithmen die Mechanismen des Lernens ausbeuten und auf die Gehirnentwicklung junger Menschen einwirken“.
Quellen und Links
1) Sammelklage wegen Gesundheitsschäden bei Jugendlichen gegen Meta (Facebook)
2) DLF: EU-Klage gegen Tiktok: Mängel beim Jugendschutz, (19.2.2024)
– Wirtschadfswoche: Klage der EU gegen TikTok „Es gibt noch keine Diagnose mit dem Namen TikTok-abhängig“ , 21.2.2024
– Tagesschau: Verstöße gegen Datenschutz – EU verhängt Millionenstrafe gegen TikTok, (15.9.2023)
– SZ: Social Media:EU-Kommission eröffnet Verfahren gegen Tiktok, (24.2.2024)
3) BR: Scharfe Kritik: US-Politiker prangern Tech-Firmen an (1.2.2024)