Universitäre Deutschkurse für Deutschlehrer!

Das Undenkbare wird Realität. Selbst Studierende mit eidgenössisch anerkanntem Abitur beherrschen die Grundelemente der deutschen Sprache nicht mehr. Schweizer Hochschulen bieten Kurse an. Eine Suche nach möglichen Gründen.

Von Carl Bossard

Die nachfolgende Generation kann nicht mehr korrekt und kohärent schreiben. Die Klagen über nachlassendes Sprachniveau sind alt. Man kennt sie, zuckt die Achseln und zieht weiter. Neu aber ist die Reaktion: Hochschulen müssen offensichtlich Massnahmen ergreifen und so das sprachlich notwendige Können einfordern. Sie bieten Fortbildungskurse für angehende Deutschlehrer und Crash-Kurse für Studierende an. Die Universität Zürich erklärt sie bei angehenden Juristen für obligatorisch. Bei vielen Erstsemestrigen mangle es an Elementarem; Grundfertigkeiten fehlten, heisst es. Man reibt sich die Augen und glaubt es kaum: Deutschkurse für Leute mit einem kantonalen oder eidgenössischen Abitur und einer Schulbildung von mindestens zwölf Jahren! Dies im teuersten Bildungssystem der Welt!

Die saubere Sprache als Voraussetzung für einen sauberen Gedanken
Die universitäre Realität: Alain Griffel, Rechtsprofessor an der Universität Zürich, bemängelt die Sprachkompetenz vieler seiner Studentinnen und Studenten. Unter die schriftliche Aufgabe eines Drittsemestrigen beispielsweise schrieb er: «Zahllose elementare Orthografie-, Grammatik- und Kommafehler! Satzbau und Formulierungen überwiegend ungelenk bis fehlerhaft.» Dem Verfasser riet der Hochschullehrer: «Arbeiten Sie daran! In einem juristischen Beruf werden Sie so nicht tätig sein können.» (1)

Griffel ist mit seinen Sorgen nicht allein. Schon vor Längerem beklagte Peter V. Kunz, Ordinarius für Wirtschaftsrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Bern, das magere sprachliche Können seiner Studierenden: «Schreibfehler, Fallfehler, mangelnde Interpunktion, falsch verwendete Metaphern – das Niveau ist zum Teil erschreckend.» Auch er hielt fest: «Eine saubere Sprache ist die Grundvoraussetzung für einen sauberen Gedanken. Wer sich nicht ausdrücken kann, wird nie zu einem guten Juristen werden.» (2) Der frühere ETH-Rektor Lino Guzzella forderte vor über zehn Jahren deutsch und deutlich: «Sprachen sind zentral. Die Leute müssen richtig lesen, schreiben und sprechen können. Das gilt auch für Naturwissenschafter und Ingenieure. Zum Teil sind die Kenntnisse ungenügend.» (3)

Sprache kommt nicht von selbst
Mangelnde Deutschkenntnisse der Gymnasiasten hat bereits die landesweite Evaluation der Matura von 2007, EVAMAR II, festgestellt. Fast 20 Prozent der Schweizer Mittelschüler erzielten im Fach Deutsch eine ungenügende Note; 40 Prozent schnitten in Mathematik ungenügend ab. Doch von einem Kompetenzenschwund bei Abiturienten wollte niemand reden, auch nicht von der Notwendigkeit einer klaren Sprache und davon, dass beispielsweise nur ein gut gedachter Text auch ein gut geschriebener Text ist.

Denken vollzieht sich sprachlich. Jeder Gedanke braucht einen Körper: die Sprache. Der menschliche Körper muss trainiert, ihm muss Sorge getragen werden. Genau gleich geht es der Sprache. Sie muss entwickelt und gefördert werden. Im Elternhaus, in der Schule. Eigentlich grundlegend und darum selbstverständlich, würde man meinen.

Die Sprache schulen ist anspruchsvoll und braucht Zeit
Doch das Fraglose ist nicht einfach selbstverständlich, sprachliches Können kein Selbstläufer. Es kommt nicht von ungefähr. Sprechen und Schreiben sind ein Handwerk, und sie wollen wie jedes Handwerk gelernt sein. Dazu gehören nebst Selbstverständlichkeiten wie Grammatik, Orthografie und Interpunktion auch die Klarheit der Sprache – und die Angemessenheit ihres Gebrauchs. Sie sind intensiv zu üben und zu fördern – zusammen mit Begriffspräzision und Textkohärenz: für die Schulen ein anspruchsvoller Auftrag.

Diese Aufgabe braucht Zeit. Doch sie fehlt. Die Schule hat sich ins fachliche Vielerlei verabschiedet. Zu vieles muss gleichzeitig erarbeitet werden: Deutsch, Frühenglisch, Frühfranzösisch, die ganze Integration und vieles andere mehr. Wenn die Aufgabenfülle steigt und die Inhalte zunehmen, reduziert sich die Übungszeit. Das ist schlichte Proportionenrechnung. Lehrerinnen und Lehrer kommen kaum mehr zum Üben, geschweige denn zum vertieften Automatisieren und Konsolidieren. Aus der Gedächtnispsychologie wissen wir: Je stärker wir eine Grundfertigkeit im täglichen Leben brauchen, desto intensiver müssen wir sie trainieren. Das gilt insbesondere für die grundlegenden Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben.

«Schreiben nach Gehör» steht vielerorts auf dem Index
Doch im Fach Deutsch werden kaum noch schriftliche Texte verfasst, und die lautgetreue Leselernmethode «Lesen durch Schreiben», die sogenannte «Reichen-Methode», toleriert Orthografiefehler teilweise bis in die Oberstufe der Primarschule – aus Angst, die Kinder übers Korrigieren zu entmutigen. Kinder schreiben so, wie sie meinen, dass es korrekt sei, zum Beispiel: «Di Bollitzei komt.» Da drängt sich die Frage auf: Warum wird weiterhin erlaubt, dass an Schulen und auch an Pädagogischen Hochschulen nach dieser Methode gelehrt wird. In den meisten Ländern steht «Schreiben nach Gehör» auf dem Index. Nur in der Schweiz nicht. Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass von der ersten Klasse an regelkonformes Schreiben gelehrt werden sollte. Die Wirklichkeit sieht leider anders aus. Zum sprachlichen Nachteil vieler junger Menschen.

Den Zugang zur Muttersprache öffnen
Ein Ding richtig können, ist mehr als Halbheiten im Hundertfachen. Der Satz geht auf Goethe zurück; er gilt noch heute. Nicht vielerlei treiben, sondern eine Sache intensiv und genau! – Non multa, sed multum!, hiess es beim römischen Gelehrten Plinius. Die Schule kann nicht alles und müsste vor allem eines grundlegend tun: an Texten und Gegenständen Sprache schulen, Gelesenes in Worte und Sätze fügen, Inhalte resümieren und sie in einen Kontext bringen, Wesentliches artikulieren und Querbezüge formulieren. Hier lässt sich die Kraft zur Präzision, zur Nuance, zum Begriff trainieren; hier lassen sich Gesichtspunkte unterscheiden, verbinden, einordnen.

In digitaler Zeit besonders bedeutsam: je üppiger die Datenmeere, desto wichtiger die Gesichtspunkte. Zusammenhänge von Kriterien und Standpunkten sind keinem Netzwerk zu entlocken; sie wollen im Unterricht geschult und logisch verknüpft werden. Das ist der Zugang zur diskursiven Sprache. Und dieser Zugang bleibt vielen verschlossen. Bis hinauf zum Abitur, wie die Aussagen von Hochschullehrern drastisch verdeutlichen.

Die Bildungssprache Deutsch stärken
Das ist der Grund, warum die Wissenschaftliche Kommission der deutschen Kultusministerkonferenz KMK, das Pendant zur Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK, eine Konzentration der Grundschule auf Deutsch und Mathematik empfiehlt. (4) Man wolle so für alle Kinder die Bildungssprache Deutsch stärken – als zentralen und basalen Baustein ihres Lern- und Lebensweges.

Ob der Weckruf in Deutschland auch bei uns gehört wird – in den Erziehungsdirektionen und bei den Bildungsfunktionären? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur eines: Beim letzten PISA-Test, publiziert im Dezember 2019, lag die Schweiz beim Lesen auf Platz 27. Sie dümpelte damit unter dem OECD-Durchschnitt und klar hinter Deutschland. Unser nördliches Nachbarland handelt. Zeit, über die Grenze zu blicken. Es ist eine ethische Aufgabe – aus der pädagogischen Verantwortung für das Lernen der Kinder und Jugendlichen heraus.


  1. Nadja Pastega, Jetzt können sogar Studenten nicht mehr richtig Deutsch, in: Sonntagszeitung, 27.11.2022, S. 6.
  2. Robin Schwarzenbach, Orthographie zum Vergessen, in: NZZ, 05.05.2017, S. 50.
  3. Michael Furger, «Das Niveau an den Schulen ist gesunken», in: NZZaS, 29.07.2012, S. 18.
  4. Heike Schmoll: Grundschule soll sich auf Deutsch und Mathematik konzentrieren, in: FAZ, 09.12.2022 (10.12.2022)