Leadership ist Denken und Handeln in Spannungsfeldern. Das geht gerne vergessen. Die Gefahr liegt im Eindeutigen. Führungshandeln aber ist vielschichtig. Auch im Schulalltag: Dazu gehören das Haltgeben und Loslassen. Ein Künstler erinnert daran.
Von Carl Bossard
Ein Bild sage mehr als tausend Worte, heisst es. Wie wahr! Vor einem Bild stehen, stillhalten, staunen – und dabei die Gedanken schweifen lassen und sich Assoziationen hingeben. So erging es mir beim Anblick einer Darstellung des deutschen Malers Norbert Schwontkowski (1949-2013). (1) Erst recht, nachdem ich den Titel des Gemäldes entdeckt hatte: «Der Lehrer».
Halt geben und gleichzeitig Freiheit ermöglichen
Auf den ersten Blick erscheint es eine unbeholfen wirkende Malerei: ein paar Pinselstriche, nur angedeutete Gesichter, ganz wenig Farben. Die Figuren sind kaum zu unterscheiden. Wer ist hier älter? Wer ist der Lehrer? Wer die aufrechte Person, wer die schwebende? Und dazu die Kernfrage: Wie stehen die beiden Gestalten zueinander?
Eine Antwort versucht der Kunstpädagoge Jochen Krautz in seinem Buch «Bilder von Bildung. Für eine Renaissance der Schule» (2) Er schreibt zum Bild: «In der Reduktion auf wenige Pinselstriche wird […] etwas Wesentliches der pädagogischen Beziehung und ihrer Aufgabe verdeutlicht. Der Lehrer hält und sichert den Schüler und ermöglicht ihm zugleich zu schweben, frei zu werden.»
Halt geben und gleichzeitig Freiheit ermöglichen – in einem Beziehungsgeschehen, in einer asymmetrischen Interaktion: Es ist das Gegensätzliche, das Ambivalente eines jeden Bildungsprozesses; es ist die anspruchsvolle Dialektik der Beziehungsdynamik – in Betrieben und Unternehmen wie in der Schule.
Vom Dialektischen in Führungsfunktionen
Schnell zoomt der Blick auf die zentrale Stelle des Bildes: die beiden Hände. Doch dieses elementare Detail ist nicht genau erkennbar. Es verweist auf die kunstvoll auszutarierende pädagogische oder eben zwischenmenschliche Beziehung. Nochmals Jochen Krautz: «So ist Lehrersein eine fragile Aufgabe zwischen Halten, Sichern und Freigeben.» (3)
Eine solche Dialektik gehört generell zur Führungsaufgabe; immer wieder sind Gegensätzlichkeiten auszutarieren, Widersprüche in kluge Balance zu bringen, das heisst: Freiheit zugestehen und zugleich Sicherheit vermitteln. Präsent sein, ohne sich aufzudrängen – unterstützen, ohne direktiv zu sein – verstehen, ohne immer einverstanden zu sein – lachend ernsthaft sein. Jede Ausschliesslichkeit sei inhuman, hat der Basler Philosoph und Psychiater Karl Jaspers einmal gesagt. Gute Leadership ist darum dialektisches Ausgleichen; sie lebt vom Integrieren des Gegensätzlichen, von verstehender Zuwendung bei gleichzeitiger Klarheit im Anspruch beispielsweise.
Freiheit und Ordnung zugleich
Viele solcher Gegensatzpaare kennt vor allem die Schule. Bekannt ist Immanuel Kants Frage: «Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?» Die beiden Begriffe widersprechen sich auf den ersten Blick – je nach Perspektive, aus der man argumentiert. Sie stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander, und sie bedingen sich gleichzeitig. Jede Freiheit bedarf einer gewissen Sicherheit, eines Rahmens, innerhalb dessen sie sich bewegen kann. Und jede Sicherheit schafft auch Freiheit, weil sie einen Rahmen stellt, innerhalb dessen man wieder frei sein kann. Gute Lehrerinnen und Lehrer geben den Schülern darum Sicherheiten, ohne ihnen die Freiheit zu nehmen. Und sie geben ihnen so viel Freiheit, dass sie nicht im Unsicheren mäandrieren. «Ohne Ordnung», sagt Albert Einstein, «kann nichts bestehen; ohne Freiheit aber kann nichts entstehen.»
Anders formuliert: Junge Menschen sollen zur Autonomie geführt werden, doch sie brauchen dazu auch Strukturen, die sie stützen. Das gilt für allem für lernschwächere Kinder. Sie benötigen ein stabiles Geländer, das ihnen Halt und Sicherheit vermittelt. Es ist die vital präsente Lehrperson, es ist ein anregendes und führendes Gegenüber. «Pädagoge» entspringt ja dem griechischen paid-agein, «Jugendliche führen». Führen, nicht nur betreuen und begleiten.
Verantwortung für sich selbst übernehmen
Daran erinnern uns viele Lern- und Denktheoretiker – auch der Berner Hochschullehrer und Didaktiker Hans Aebli, vielleicht der wichtigste Schüler des Entwicklungspsychologen Jean Piaget. (4) Für Aebli verläuft die kognitive Entwicklung eines jungen Menschen von aussen nach innen und – je nach Voraussetzung – mehr oder weniger angeleitet. Lernen, Denken und Problemlösen sind für ihn zunächst sozial, also dialogisch und damit an eine Beziehung gebunden: die Hand, der zugewandte Blick.
Da ist das kleine Kind, der Jugendliche, der junge Mensch. Ihm gegenüber steht ein kompetenterer Partner, eine achtsame Lehrerin, ein aufmerksames Visavis. Sie gehen eine Brücke, eine Beziehung ein – als Basis des Dialogs, des (Gedanken-)Austausches, des Lehrens und Lernens. Genau wie es der Künstler Norbert Schwontkowski auf seinem Bild zum Ausdruck bringt.
Ganz allmählich internalisieren die Lernenden den Problemlösemodus. Er war ja zunächst sozial unterstützt. Irgendwann interagieren sie geistig mit sich selbst – wie sie es vorher mit einem kompetenteren Visavis getan haben. Sie übernehmen Verantwortung für ihr autonomes Lernen, Denken und Problemlösen.
Wir brauchen ein Gegenüber, um das Denken zu lernen
Doch diese Verantwortung kommt kaum von selbst; wir sind ja keine Kaspar-Hauser-Figuren. Es braucht am Anfang ein verantwortungsvolles Gegenüber, das (an-)leitet, das mich im gegenseitigen Austausch zu mir selber führt und damit zum Denken.
Denken ist ja ein Gespräch, ein Dialog zwischen mir und mir selbst. Das müsste ja das Kernanliegen der Schule sein: junge Menschen zum Denken führen, zu sich selbst – und zum Verstehen: Im andern, im Gegenüber zu sich selbst kommen. Das hat beispielsweise der Schriftsteller und Lehrer Peter Bichsel erlebt. Er erinnert sich: «Ich hatte in der 5. und 6. Klasse in Olten einen wunderbaren Primarlehrer: Er hat mich von mir selber überzeugt, mich zum Schriftsteller gemacht. Weil er unter dem ganzen Schlamassel von Rechtschreibefehlern entdeckt hat, dass ich gute Aufsätze schreibe. […] Ich habe ihn geliebt.» (5)
Kinder und Jugendliche brauchen die Hand anderer Menschen
So verstanden ist die kognitive, kreative Entwicklung des jungen Menschen eine gemeinsame «Konstruktion» zwischen ihm und einem verantwortungsbewussten Gegenüber. Ziel ist seine Autonomie, Ziel ist die Symmetrie, aber der Weg dorthin ist nicht symmetrisch. Er ist zunächst asymmetrisch. Kinder und Jugendliche brauchen darum die Hand anderer Menschen. Eine Hand, die Halt gibt und auch loslässt.
Leadership ist ein dialektischer Prozess.
Literatur und Quellen
1 Das Bild: vgl. https://artmap.com/kunstvereinhamburg/exhibition/norbert-schwontkowski-2013
2 Jochen Krautz (2022): Bilder von Bildung. Für eine Renaissance der Schule. München: Claudius Verlag.
3 Ebda., S. 95.
4 Hans Aebli (1978, Von Piagets Entwicklungspsychologie zur Theorie der kognitiven Sozialisation, in: Gerhard Steiner (Hrsg.), Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Band VII: Piaget und die Folgen. Zürich: Kindler, S. 604-627.
5 In: DIE ZEIT, 24.06.2021, S. 17.