Von unantastbaren pädagogischen Heiligtümern

Wenn die Kernproblematik des Lehrermangels ausgeblendet wird

Von Carl Bossard

«Nolite turbare circulos meos!» Störet meine Kreise nicht! So soll der griechische Mathematiker Archimedes von Syrakus ausgerufen haben, als 212 vor Christus römische Soldaten die Stadt stürmten und in seinen Garten eindrangen. Der Gelehrte hatte Kreise in den Sand gezeichnet und war ganz in Gedanken vertieft. Er ignorierte die Gefahr. Das kostete ihn das Leben.

«Störet unsere Kreise nicht!» Das verlangen heute auch Bildungspolitik und -verwaltung. Diesen Eindruck gewinnt, wer den Disput um den akuten Lehrermangel in den einzelnen Schweizer Kantonen verfolgt. Ausgebildet werden genügend Lehrerinnen und Lehrer. Viele aber fliehen in Teilpensen oder verlassen das Schulzimmer schnell einmal. Doch warum dieser Notstand? Die wirklichen Ursachen benennen will niemand. Sie sind tabu. Die Bildungsstäbe flüchten ins Oberflächliche und Unverbindliche. Sie berufen sich auf Pensionierungen, auf Lohnfragen und gestiegene Schülerzahlen. Die Kernproblematik bei der Flucht aus der Schule wird ausgeblendet. Pädagogische Heiligtümer bleiben unberührt.

Dabei ist man sich hinter vorgehaltener Hand längst einig, dass eine übertriebene Bürokratie viele Lehrer aus dem Beruf vertreibt. Bildungsverwaltung und Administration wollen Schule und Unterricht von oben vereinheitlichen; sie wollen standardisieren und reglementieren. Wie Schlingpflanzen wachsen und wuchern Vorgaben und Vorschriften. Pädagoginnen aber sollten kreativ sein und spontan gestalten können. Das bedingt Freiheit. Und beides passt nicht zusammen. Doch darüber reden darf man nicht. Organisation kommt heute vor Interaktion; die Verwaltung dominiert vielfach die Pädagogik. Da wird gemessen und getestet, evaluiert und verglichen, korreliert und prognostiziert wie noch nie. Freude haben höchstens die Beratungsbüros. Dicke Berichte entstehen und neue Erlasse. Viele Lehrpersonen fühlen sich darum gefangen in den Tentakeln administrativer Fesseln. Sie beklagen das Korsett künstlich konstruierter Komplexität heutiger Schulwelten. «Schule in Ketten» resümiert ein erfahrener Lehrer seine Unterrichtsjahre. Doch darüber herrscht in der Bildungspolitik eisernes Schweigen.

Viele spüren, dass der Lehrplan 21 mit den zwei frühen Fremdsprachen auf der Primarstufe und der Fülle von Kompetenzen überladen ist. Wer die Fachinhalte ausdehnt, minimiert die Übungszeit. Beides lässt sich nicht gleichzeitig steigern. Das Gesetz der Gegenbuchung! Darunter leidet vor allem das Grundlagenfach Deutsch mit den Kulturtechniken Lesen und Schreiben. Das macht guten Lehrerinnen und engagierten Pädagogen zu schaffen. Sie hetzten von Thema zu Thema, beklagen manche – ohne die nötige Zeit zum Vertiefen und Üben, ohne genügend Freiraum fürs Erlebnis und das Musische. Das hat seinen Grund: Die Primarschule hat sich inhaltlich entgrenzt. Gleichzeitig weiss man seit Langem um den minimen Wirkeffekt vor allem von Frühfranzösisch. Die Langzeitstudie der Zürcher Linguistin Simone Pfenninger weist dies nach; sie stellt den propagierten Wert der frühen Fremdsprachen in Frage. Die Bildungspolitik schweigt konsequent.

Viele erleben, dass die angedachte Integration in dieser Form nicht recht funktioniert. Verhaltensauffällige Schüler belasten den pädagogischen Alltag. Der Wegfall der Kleinklassen als Folge der Integration ganz unterschiedlicher Kinder in die gleiche Lerngemeinschaft verstärkt die Unruhe im Klassenraum und erschwert den Unterricht. Die Koordinationsabsprachen mit all den Betreuungspersonen sind anspruchsvoll; der administrative Aufwand steigt. Die Arbeitszeit reicht vielfach nicht aus. Das geht auf Kosten des Kernauftrags Unterricht; oft verkommt er gar zur Nebensache. Viele Lehrpersonen können das nicht verantworten. Doch darüber reden dürfen sie nicht; die internationalen Verträge sind unterzeichnet und die Entscheide gefallen. So ist eine weitere sakrosankte Weihestätte entstanden. Auch darüber schweigen die Stäbe.

«Nolite turbare circulos meos!», heisst die Devise der Schweizer Bildungspolitik. Will man den Lehrermangel beheben, müssten zuerst dringend die pädagogischen Heiligtümer enttabuisiert werden. Leidtragende sind sonst die Schulkinder.