Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode …

Replik auf den Kommentar bei SWR-Wissen auf den Moratoriumsappell zur Digitalisierung von KiTa und Schule

Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“ Diese Zitat wird Albert Einstein zugeschrieben und es charakterisiert sowohl das Agieren der Kultusministerien, die unter der Kuratel der IT-Lobbyisten und Wirtschaftsverbände seit mehr als 40 Jahren Digitaltechniken für Schulen propagieren und Milliarden in IT-Infrastruktur investieren. Ein Mehrwert ist immer noch nicht belegt, wird nur behauptet. Die Ergebnisse der Bildungsstudien sind hingegen durchweg ernüchternd. Die Anteile der Schülerinnen und Schüler mit Lerndefiziten steigen konstant. Anstatt diese Fakten und Studien zu referieren, werden diejenigen diffamiert, die valide Studien zitieren, auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Von Ralf Lankau

40 Wissenschaftler und Kinder- und Jugendärzte fordern mit einem Offenen Brief vom 17. November 2023 von den Kultusministern ein Moratorium der Digitalisierung an Schulen. Ralf Caspary aus der SWR Wissenschaftsredaktion gibt in seinem Kommentar vom 28.11.2023 hingegen Entwarnung. Die von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern referierten Untersuchungen und Reporte werden von Caspary nur summarisch und nebenbei erwähnt (sinkende Lernleistung sowie negative gesundheitliche, psychische und soziale Nebenwirkungen). Die nationalen und internationalen herausgebenden Institutionen (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Deutscher Ethikrat, UNESCO, U.S. Surgeon General, Karolinska-Institut, Stockholm) werden ebenso wenig benannt wie deren Anliegen, Ergebnisse und Forderungen nach einer Revision der Digitalstrategien. Caspary beschränkt sich stattdessen auf die Feststellung, dass …

  1. die Digitalisierung, zumal in Grundschulen in Deutschland, ja noch nicht weit fortgeschritten sei, warum also aufregen … Er blendet aus, dass in Bayern, NRW und Baden-Württemberg Kitas und Grundschulen mit zehntausenden Tablets ausgestattet werden, ohne konkrete pädagogische Konzepte, ohne Rücksprache mit den Einrichtungen und gegen jede didaktische Vernunft. Denn nicht das Erziehungs- und Unterrichtsgeschehen entscheidet dabei über den Einsatz von Medien, sondern der Unterricht wird (wieder einmal) über technische Geräte definiert (PCs in den Schulen Schulen ans Netz, Laptop- oder Tabletklassen). Dabei müssten Bildungsziele und didaktischen Bedarfe das Regulativ des Medieneinsatzes sein.
  2. Der zweite Punkt seiner „Kritik“ beschränkt sich auf seine Aversion gegen den Ulmer Mediziner und Hirnforscher Prof. Manfred Spitzer, der mit seinen Vor- und Beiträgen seit Jahren vor dem warnt, was sich nicht erst seit der Pandemie in den Kinder- und Jugendarztpraxen als Ergebnis dysfunktionaler Bildschirmmediennutzung bestätigt: psychische und soziale Störungen, Depressionen, Angstzustände, vermehrt Suizidversuche u.v.m. Die Kinder- und Jugendpsychiatrien sind überfüllt. Die Wartezeiten lang. Das wird von niemandem monokausal der Mediennutzung zugeschrieben. Aber hier korrelieren die seit Jahren stetig steigenden Bildschirmmediennutzungszeiten mit dem immer früheren Einstiegsalter und der zunehmenden Allgegenwart digitaler Endgeräte. Das führt zu Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, Bewegungsmangel, Übergewicht,Sehschwächen etc. Stundenlang auf Bildschirme zu starren macht nicht nur abhängig und mediensüchtig, sondern frisst Zeit, schränkt andere Aktivitäten ein und verändert Wahrnehmung und Kommunikationsverhalten. Statt Bashing und Privatkrieg gegen einen frühen Warner der Folgen der Digitalisierung sollte Caspary die zahlreichen von Spitzer referierten Studien – einfach mal lesen. Gleiches gilt für die Studien, die in diesem Aufruf zitiert und im Netz verlinkt sind. Das wäre hilfreich für eine faktenbasierte Argumentation.
  3. Der dritte Punkt der Kritik sei „eine Binsenweisheit: Die digitalen Medien sind so gut oder schlecht, wie die Pädagogen, die sie einsetzen.“ Gute Pädagogen würden Schüler und Schülerinnen nicht schon „in der ersten Klasse vier Stunden vor das Laptop setzen“. Gute Pädagogen würden digitale Medien moderat und ergänzend einsetzen. Dafür gäbe es viele Vorteile, die durch Studien belegt seien – von denen Caspary allerdings, anders als die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler exakt keine einzige benennt. Das ginge auch in einem Kommentar. Oder wird der Mehrwert und Nutzen von IT im Unterricht nur von den Anbietern behauptet, wie es im UNESCO-Bericht heißt: „Ein Großteil der Nachweise stammt von denjenigen, die versuchen, sie zu verkaufen.“?

Polemik statt Fakten

Statt Fakten und Studien zu zitieren repetiert Caspary die üblichen Phrasen der IT-Wirtschaft. Schüler würden durch ein Tool wie ChatGPT, „auf spielerische Weise verschiedene Textformen“ kennen lernen und damit Blogs, Chats oder ein Weihnachtsgedicht schreiben – lassen. Das übernehmen ja die Bots. Dabei vergisst Caspary den elementaren Grundsatz des Lernens. Ich muss etwas selbst tun, um es zu lernen und ich muss es üben, um es zu können. Wer stattdessen nur Prompts (Arbeitsanweisungen für den Computer) eintippt, lernt, Prompts zu formulieren, aber weder Gedichte noch andere Texte zu schreiben.

Oder: Wer behauptet, Kinder könnten selbständig zu Themen recherchieren, von denen sie (noch) keine Ahnung haben und dabei lernen, was wichtig sei und was man weglassen könne, unterschlägt die notwendige Voraussetzung für diese Form des Arbeitens: Vorwissen, Reflexionsvermögen und Urteilskraft. Gerade bei Tools der generativen KI wie ChatGPT (Microsoft), Bard (Google) u.a. gilt das Matthäus-Prinzip: Wer Vorwissen, Fachkenntnisse und Bewertungskriterien für die Validität von Quellen und Informationen hat, dem wird ein durchaus mächtiges Werkzeug für Routineaufgaben (!) gegeben. Er oder sie muss „nur“ die derzeit ca. 30% Falschinformationen (Konfabulationen) herausfiltern und durch valide Aussagen, Daten und Quellen ersetzen. Wem Vorwissen und Sachkenntnis fehlen, muss der Software – glauben. Warum man nicht gleich mit validen Quellen (Fach- und Schulbüchern, Fachinformationsdiensten, wissenschaftlichen Datenbanken, Lehrfilme etc.) arbeitet statt der Black Box dieser KIs, wird nicht begründet.

Ist es das Ziel von Unterricht, dem „schlauen“ Computer zu glauben? Ein Beispiel: DeepL ist ein Übersetzungsprogramm, das bessere Ergebnisse liefert als die Google-Übersetzung. Es ist ein hilfreiches Werkzeug im Umgang z.B. mit wissenschaftlichen Texten in anderen Sprachen. Ob aber die Übersetzung korrekt ist, kann nur prüfen, wer diese Sprachen (zumindest rudimentär in Linguistik und Grammatik) beherrscht. Lesen Sie zum Beispiel das hier: …

Esimerkki? DeepL on käännösohjelma, joka tuottaa parempia tuloksia kuin Google Translate. Se on hyödyllinen apuväline esimerkiksi silloin, kun käsitellään tieteellisiä tekstejä muilla kielillä. Kuitenkin vain ne, joilla on alkeellinen kielituntemus (ainakin kielitieteen ja kieliopin osalta), voivat tarkistaa, onko käännös oikea. Lue esimerkiksi tämä: …

Verstanden? Wer kein Finnisch kann, ist dem Programm ausgeliefert. Aber Kinder können mit Hilfe von Internet und Software Filme drehen und schneiden, Musikstücke komponieren, Texte und Gedichte schreiben etc., weil viele von ihnen dank Frühdigitalisierung zwar weder lesen noch schreiben oder rechnen können, aber durch den „Gewinn an Medienkompetenz“ ihre Aufgaben an Software übertragen und deren Ergebnisse bewerten können? Sollte man als Kommentator, zumal in der Rubrik „Wissen“, nicht wenigstens Grundregeln der Logik und Lernpsychologie kennen? Es wäre daher hilfreich, wenn Caspary als Meinungsbildner im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk anhand der Studienlage argumentieren würde.

Argumentation der Unternehmensberater

Stattdessen heißt es: „Die Kreidezeit ist vorbei“ und „Frontalunterricht an der Tafel ist im wahrsten Sinne des Wortes ‚old school‘, so Caspary. Als Pädagoge weiß man, dass Instruktion ein entscheidender Teil des Unterrichtens ist und dass gerade der Tafelanschrieb eine sehr gute, weil langsame und nachvollziehbare Methode ist. Ohne technischen Aufwand lässt sich etwas Schritt für Schritt zeigen und erklären. Je jünger Kinder sind, desto wichtiger ist dieses Vor- und Mit- und Nachmachen, beim Sprechen, beim Schreiben, beim Rechnen. Grundschulpädagoginnen und -pädagogen praktizieren das täglich. Innovativ und modern wird es für Digitaljünger allerdings erst, wenn die Tafel durch ein Whiteboard ersetzt wird und man das Abschreiben „spart“, als wäre der manuelle Akt des Schreibens nicht Teil des Lern- und Aneignungsprozesses.

Unsere Gesellschaft könne es sich nicht leisten, Schüler erst mit zehn Jahren mit den digitalen Medien in Berührung zu bringen, so Caspary. Unser Gesellschaft kann es sich aber leisten, dass ein Drittel der Schülerinnen und Schüler nach vier Grundschuljahren weder richtig lesen und schreiben kann und ein Drittel nicht einmal die Mindeststandards im Rechnen erreicht. Unser Gesellschaft kann es sich – nicht! – leisten, dass jeder dritte Neuntklässler die Mindeststandards im Lese- und Hörverständnis im Fach Deutsch verfehlt (IQB-Bildungstrend 2022). Was Caspary und andere Adlaten der Digitalwirtschaft in ihrer Mischung aus Missachtung des Forschungsstandes und trivialer Digitalpropaganda (Digital first …) ausblenden, sind die klaren wirtschaftlichen Ziele der Global Education Industries und der sie finanzierenden Stiftungen: Die Automatisierung des Beschulens und Testens. Der Lehrberuf werde sich drastisch ändern, so eine aktuelle McKinsey-Studie. Unterricht an der Tafel sei „old school“ (siehe oben!). Generative Artificial Intelligence (GenAI), d.h. KI-Avatare am Tablet, seien hingen modern und innovativ und – rein zufällig – ein probates Mittel gegen den seit mehr als 30 Jahren konstatierten, aber genau so lang nicht behobenen, Mangel an Lehrkräften.

Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.
Quellen und Links

Moratorium (2023) Wissenschaftler fordern Moratorium der Digitalisierung in KITAs und Schulen

News4Teacher (2023) McKinsey-Studie: ChatGPT & Co werden den Lehrberuf drastisch ändern – und können den Lehrermangel lindern

SWR (2023) „Die Kreidezeit ist vorbei“ Tablets aus dem Unterricht verbannen? Kommentar zur Digitalisierung an Schulen, swr.de, 27.11.2023