Wenn Wissenschaft und Praxis auseinanderdriften

Bestimmen pädagogische Glaubenssätze und Dogmen der Didaktik den Schulalltag? Das fragt man sich nach einer Analyse des Neuropsychologen Lutz Jäncke. Ein Zwischenruf mit drei Punkten.

Von Carl Bossard.

In den Schulen setze sich manches „über die Erkenntnisse der Hirnforschung und Lernpsychologie hinweg“, beklagt der Zürcher Neurowissenschaftler Lutz Jäncke. Der bekannte Neuropsychologe erforscht das menschliche Lernverhalten. Seit 2002 lehrt er an der Universität Zürich. In einem Interview mit der SonntagsZeitung spricht Jäncke Klartext. (1) Vieles in der Schule sei von Bildungstheoretikern entworfen und manches Konzept nicht den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen angepasst, so sein Fazit.

Erstens: Junge Menschen brauchen ein pädagogisches Gegenüber
Lutz Jäncke benennt pädagogische Glaubenssätze. Dazu gehört die beliebte These, dass es nichts Besseres als „selbstorientiertes Lernen“ geben könne. Suggeriert wird ja, autonomes Lernen erlöse die Schüler vom gemeinsamen Unterricht und der „direkten Instruktion“ mit dem begleiteten Lernen, diffamierend stets als Frontalunterricht bezeichnet. Und dazu gehört der feste Glaube, nur Selbstlernen führe zum Ziel der Selbständigkeit. Darum der dezidierte Wechsel „from teaching to learning“. Die Lehrperson wird bei dieser Methode zum blossen „peer in the rear“, zum Kollegen im Heck, degradiert; allenfalls bleibt sie als „guide at the side“ noch Lernbegleiterin. Es ist, pointiert formuliert, so etwas wie das allmähliche Verschwinden des Pädagogen – verursacht durch die geradezu kantianisch klingende Errungenschaft des autonomen Lernens.

Das höre sich zwar toll an, sagt Jäncke. Und ganz nüchtern fügt er bei: „Aber es funktioniert oft nicht so, wie man sich das theoretisch vorstellt. Kinder und Teenager sind nicht so effizient in der Lage, sich selbst klare Ziele auszusuchen und sich mit einem Stoff auseinanderzusetzen, wenn sie nicht verstehen, warum sie diesen Stoff lernen sollen.“ Darum müssten das Lehren und der Lehrer rehabilitiert werden – auch und gerade dann, wenn man das Wort Pädagoge in seinem ursprünglichen Sinn ernst nimmt: paid-agogein, die Kinder zur Freiheit führen. Das wissen alle Lehrerinnen und Pädagogen, die sich für eine emanzipationsorientierte Bildungs- und Unterrichtsarbeit engagieren.

Zweitens: Junge Menschen brauchen Struktur und Stimulation
Eine solche Bildung will die Kinder und Jugendlichen aus ihrer aktuellen Form herausführen, will sie über ihre jeweilig begrenzte Subjektivität und Situiertheit hinausführen – hin zu ihren Möglichkeiten. Das meinte wohl Goethe, als er in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ Natalies Bildungsmaxime formulierte: „Wenn wir die Menschen […] behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.“ (2) Nur das kann letztlich der Sinn der Pädagogik sein: den Kindern helfen, dass sie sich entwickeln können und denken lernen. Damit sie täglich etwas mündiger werden, souveräner, freier – auf dem Weg zum Erwachsenwerden, auf dem Weg zum Subjekt-sein in einer Welt mit Anderen.

Der Frontalcortex ist erst spät ausgereift – das hat Folgen
Kinder müssen Autorinnen und Autoren ihrer Lebensbiografie werden. Doch diese Autonomie kommt nicht von selbst. Sie „brauchen Struktur und Stimulation“, sagt Lutz Jäncke. „Je jünger sie sind, desto mehr muss man ihnen davon bieten“, betont er. „Das hat einen neurophysiologischen Hintergrund: Der Frontalcortex ist bei Kindern und Jugendlichen noch nicht voll ausgereift. [Also] jener Bereich des Gehirns, der hilft, uns zu disziplinieren und gegen Ablenkung zu wehren. Er ist erst mit dem 18. Lebensjahr ausgereift. Darum ist die Gefahr bei Kindern gross, dass sie sich ablenken lassen.“

Daher sei es „einfach eine Tatsache, dass man Kindern eine Struktur geben muss“, unterstreicht Jäncke seine Aussage. Und das hat einen weiteren Grund. Manche Kinder sehen sich in ihrem Alltagsleben einer leidigen Schlüsselschwierigkeit gegenübergestellt: Sie leben in einer unterstrukturierten Mikrowelt. Regeln, Zeitstrukturen und Selbstkontrolle bereiten ihnen Mühe. Darum ist selbstorientiertes Lernen für viele so anspruchsvoll; die Freiheit überfordert und verwirrt sie. Sie benötigen in der Schule eine charmante Autorität, die sie führt und leitet. Sich selber in verantworteter Freiheit führen, das müssen Kinder und Jugendliche erst lernen. Sie „brauchen Halt und freundlichen Widerstand“, resümiert darum der Neurowissenschaftler und Arzt Joachim Bauer. (3)

Drittens: Junge Menschen brauchen konzentriertes Automatisieren
Lernen erfordert Anstrengung und Üben. Zahlreiche psychologische Studien belegen es: Der Mensch braucht an die sechs bis acht Wiederholungen, um eine Information vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis zu befördern. Fehlen diese Repetitionen und der damit verbundene Einsatz, so nimmt das Vergessen seinen Lauf. Der Moment des Vergessens beginnt im Moment des Merkens. (4) Und dies ist unabhängig davon, ob analog oder digital gelernt wird. Üben aber benötigt Zeit. Doch in der (Über-)Fülle heutiger Fächer und Themen fehlt diese Zeit. Regelmässiges Repetieren und Automatisieren kommen zu kurz.

„Was sie brauchen, haben sie in der Schule nicht gelernt“
Hart ins Gericht geht darum Jäncke mit dem Lehrplan 21. Dieses offizielle Dokument beschreibt in 363 Kompetenzen und mit über 2‘300 Kompetenzstufen, was die Schulkinder alles beherrschen sollen. „Dieses Konzept wurde offenbar von Theoretikern entworfen. So wie das formuliert ist, lässt es sich in der Praxis kaum umsetzen. Ich habe noch keinen Lehrer getroffen, der davon hellauf begeistert ist. Oft fühlen sie sich überfordert, was jeder versteht, der einmal in diesen Lehrplan reingeschaut hat.“ Er überquillt von kleingerasterten und messbaren Kompetenzzielen, welche die Kinder individuell und selbstorientiert erarbeiten sollen.

Die Folge davon: „Wenn die Kinder dann aufs Gymnasium wollen, müssen sie irgendwelche Weiterbildungskurse bei Privatanbietern aufsuchen, weil sie das, was sie brauchen, in der Schule nicht gelernt haben. Das ist doch ein völlig falsches Lehrmodell“, diagnostiziert Jäncke.

Das Wort des Wissenschaftlers – ob es gehört wird?
Hier driften Wissenschaft und pädagogische Praxis weit auseinander. Leidtragende sind die Schulkinder. Dabei plädiert eine verantwortungsbewusste Bildungswissenschaft schon längst für ein Wiederentdecken und Wiedererrichten des Lehrens, für ein „Re(dis)covery of Teaching“. (5) Dazu gehört auch die „Rückgewinnung des Denkens“, wie es der emeritierte Berner Pädagogikprofessor Walter Herzog fordert: die jungen Menschen zum Denken anleiten – Denken als innerer Dialog zwischen mir und mir selbst. In der amerikanischen Pädagogischen Psychologie heisst es pragmatisch: „Teachers are leaders of learning and learners.“ Lehrer führen das Lernen und die Lernenden.

Dafür votiert auch Jäncke. Ob sein klares Wort in die erfahrungsverdünnte Luft der Bildungsstäbe dringt? Wünschenswert wäre es. Gerade für lernschwächere Kinder.

Carl Bossard


  1. „Liebe Eltern, entspannt euch!“ Interview von Nadja Pastega mit Lutz Jäncke, in: SonntagsZeitung, 24.05.2020, S. 15f.
  2. Goethes Werke (1959), Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 7. Romane und Novellen (4. Aufl.). Hamburg: Christian Wegner, S. 531.
  3. Joachim Bauer (2019), Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. München: Karl Blessing Verlag, S. 58.
  4. Klaus Zierer (2018), Die Grammatik des Lernens, in: FAZ, 04.10.2018, S. 7.
  5. Ewald Terhart (2018), Eine neo-existenzialistische Konzeption von Unterricht und Lehrerhandeln? Zu Gert Biestas Wiederentdeckung und Rehabilitation des Lehrens und des Lehrers, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 94 (2018) 3, S. 479.